Beitrag: 82 Wie Jura im Gedächtnis bleibt?

Zunächst genau so, wie besprochen: Mit Komplexitätsreduktion, Baumdiagrammen, assoziativer Verknüpfungstechnik, disziplinierter Studienalltagsplanung und stringenten Zwei-Stunden-Lerneinheiten. Aber jetzt kommt etwas Wichtiges hinzu: Wiederholungen. Wie jede Klugheit entsteht auch juristische Klugheit aus Erfahrung, d.h. aus erinnerten Ergebnissen über Versuch und Irrtum. Hier eine Erfahrung, die Sie sich täglich selbst bestätigen können.

Der Versuch: „Ich will eine juristische Vorlesung nach einem Tag rekonstruieren.“
Der Irrtum: „Ich muss leider feststellen, dass sehr wenig hängen geblieben ist.“

Nach einem Tag verfügen Sie nur noch über Erinnerungsinseln. Nach einer Woche? – Nach einem Monat? – Alles weg! Die Vergessenskurve rast dramatisch in den Keller, sie neigt sich gegen Null. – Sie merken sich 10 % von dem, was Sie hören, 20 % von dem, was Sie lesen, 60 % von dem, was Sie lesen und hören, 70 % von dem, worüber Sie selbst sprechen und 90 % von dem, was Sie selbst ausprobieren und ausführen.

Der Hauptverlust fällt auf den Zeitraum unmittelbar nach der Informationsaufnahme. Im Verlaufe von maximal zwei Tagen wird ohne Nacharbeit nur noch ein Fünftel behalten, der Rest ist vergessen.

Aus Versuch und Irrtum muss Ihre persönliche Erfahrung entstehen:
„Den Wirkungsgrad kann ich erhöhen, wenn ich den Lernkanal ‚Hören‘ mit dem Lernkanal ‚Sehen‘ kombiniere, also einerseits die Vorlesung und andererseits Skripten, Lehrbücher sowie meine in der Vorlesung gefertigten Aufzeichnungen durcharbeite.
Eine weitere Steigerung erreiche ich durch aktives Tun, z.B. die Fallbearbeitung.
Ein richtig gutes Gegengift gegen das Gift des Vergessens, gegen das Ausfiltern und Ausfällen meines gelernten juristischen Wissens aus meinem Gedächtnis, ist aber das Wiederholen.“

Vergessen beschreibt die unbestreitbare Tatsache, dass gelernte juristische Inhalte bei dem Versuch des Wiedererinnerns entweder fehlerhaft, unvollständig oder aber meist gar nicht mehr reproduziert werden können. Was ist zu tun? – Wiederholen! Wiederholen heißt hier nichts anderes als etwas „wieder“ hervor„holen“, sich etwas „wieder“ zurück„holen“. Dazu muss allerdings etwas da sein, was „hervor-“ bzw. „zurückgeholt“ werden kann. Wissen ist naturgemäß nur abrufbar, wenn das Wissen dauerhaft gespeichert wurde. Im permanenten Kampf gegen das Vergessen ist die Wiederholung des Erlernten das wesentliche Gegenmittel, und das so oft wie möglich. Beim Wiederholen muss man gleichsam „sich selbst besprechen“. Nur so bleibt Jura dauerhaft im Gedächtnis! Nur das, was man ständig wiederholt, sich immer wieder vorsagt, stufenweise aufbaut, mit „Bäumen der Erkenntnis“ fest verankert und in juristisch-assoziativer Gesellschaft verknüpft, wird nicht vergessen.

Am besten lernen die Studenten, die sich mit der Einsamkeit des Wiederholens schnell und problemlos abfinden. Letztlich führt am Wiederholen nämlich kein Weg vorbei. Ein einmaliges Verstehen und Können bei der Neudurchnahme juristischen Stoffes, auch bei den besten didaktischen Lehrmeistern, gelingt nur Genies. Lernen ist im Wesentlichen ein Behaltensphänomen; immer ein Bewahren, ein „Aufheben“, ein Speichern – kurz: ein Nichtmehrvergessen ist beabsichtigt. „Repetitio est mater omnium studiorum“ – Die Lateiner wussten schon: Die Wiederholung ist die Mutter allen Lernens.

Das entscheidende Mittel für die Verhinderung jedweden Lernerfolges ist es, den Stoff nur einmal aufzunehmen. Es hilft allen Studenten nur eines zum nachhaltigen Erfolg: Lernen – Wiederholen – Behalten – Üben – Aktuelle Form für Klausuren verbessern! Lernen – Wiederholen – Behalten – Üben – Aktuelle Form für Klausuren verbessern! Wie in jeder Kultur des übenden Trainings zählt auch im juristischen Lerntraining nur die aktuelle „Form“, in die Sie sich bringen müssen!

Einige Tipps zum Thema Wiederholen! – Genau so bleibt Jura im Gedächtnis.

1. Da das Vergessen innerhalb der ersten 12 Stunden nach dem Lernen am stärksten ist, sollte die erste Wiederholung möglichst früh stattfinden. Faustregel: Wiederholen Sie am Abend den Tagesstoff in einer übergreifenden Zusammenfassung!– Wiederholen Sie an den reservierten Wochenendvierteln (Min.: 1/4) den Wochenstoff! – Wiederholen Sie nach einem Monat an einem ganzen Wochenendtag den Monatsstoff! – Wiederholen Sie in der Zeit zwischen den Semestern den Semesterstoff! Sie wissen: Es heißt nicht „Semesterferien“, sondern „Vorlesungsfreie Zeit“. Ihre Abwehr nehme ich vorweg: „Da komme ich ja aus dem Wiederholen nie heraus!“ Dem ist eben nicht so! Eine hoffnungsfrohe Lernerfahrung besagt, dass die für das Wiederholen benötigte Zeit im Verlaufe der Wiederholungen immer mehr abnimmt. Sehr bald genügt z.B. ein einzelnes Stichwort über das Zustandekommen eines Vertrages, und alles ist wieder präsent. Das Wiederholen ist überflüssig geworden. Ein Teil entfacht dann das Ganze!

2. Man muss nicht alles wiederholen. Sie bemerken sehr schnell, was für Sie persönlich schwierig und schwer merkbar ist und was recht flott von der Hand geht. Zum Beispiel die Anfechtung oder das Abstraktionsprinzip oder der § 812 ff. BGB sitzen bei Ihnen überhaupt nicht? – Dann müssen Sie hier eben öfter ran. Dagegen können Sie das Zustandekommen eines Vertrages zwischenzeitlich im Schlaf? – Also weglassen!

3. Zum Wiederholungslernen eignet sich die juristische Lernkartei sehr gut. Der Lernstoff des AT-BGB und AT StGB, die einzelnen Rechtsinstitute mit ihren Einzelheiten, die Puzzlesteine der Antwortnormen und Erscheinungsformen werden in Frage-Antwort-Form auf Karteikarten übertragen – auf die Vorderseite kommt die Frage, auf die Rückseite die Antwort. Der Wanderweg der Lernkärtchen kann beginnen. Am Anfang sollten Sie möglichst schriftlich antworten – denken Sie an Ihre verschiedenen Lernkanäle. Glauben Sie nicht, dass das Beschriften der Karten eine sinnlose Tätigkeit sei: Sie müssen sich nämlich durch die Auswahl und die stringente Formulierung der juristischen Fragen mit dem Lernstoff auseinandersetzen – und dabei lernen Sie. Großer Vorteil der Karteikarten: Mit Karteikarten kann überall gelernt und wiederholt werden: im Bett, im Zug, im Wartezimmer.

4. Sehr gut bewährt hat sich bei vielen auch ein sog. Flipchart. Auf den großen Blättern dieses Mediums kann man wichtige, für das weitere Lernen notwendige, behaltenswürdige Grundschemata, Pakete, Puzzlesteine, Baumdiagramme – farbig markiert – auftragen, die man dann bei der Wiederholung zu jedem Anlass aufblättern kann. Ein Flipchart, das ist so etwas wie ein ewiges Gedächtnis. Mit der Lernkartei und dem Flipchart schlagen Sie drei Fliegen mit einer Klappe:
Fliege 1: Sie lernen bereits beim klaren, übersichtlichen, präzisen, vollständigen und einfachen Auftragen der Frage- und Antwort-Strukturierungen.
Fliege 2: Sie gewinnen einen treuen Begleiter, der Fixiertes fix, zuverlässig und insbesondere einprägsam aus der Erinnerung hervorholt.
Fliege 3: Sie können ein Ihnen nur schwer zugängliches Paket eine Zeit lang vor Ihrem Auge stehen lassen. Steter Tropfen höhlt den Stein.

5. Auch die Partnerarbeit, respektive Gruppenarbeit, eignet sich gut zu juristischen Wiederholungen – und beugt so ganz nebenbei der Isolation beim Lernen vor. Lernen vereinsamt nun einmal! Gegen die Einsamkeit des Lernens gründet man eine gesellige Lern-AG. Hier zeigen sich Kapazitäten zur Selbsthilfe und Selbstheilung. Eine solche Partnerarbeit kommt nicht für neuen Wissenserwerb und auch nicht als stundenlange Dauerform in Betracht, sondern lediglich als willkommene Abwechslung und Zwischenstufe des Lernens. Sie und Ihr Freund sprechen sich ab: „10 Minuten Zeit! Erlöschen durch Erfüllung! §§ 362 Abs. 1, 2, 364 Abs. 1 BGB, Abgrenzung zu § 364 Abs. 2 BGB.“ Gesetz raus, und Sie schreiben stichwortartig untereinander, was Ihnen beiden dazu einfällt. Die Vorteile liegen auf der Hand: Es entsteht ein gewisser Wettbewerb, es gestaltet sich alles mehr als ein Spiel (Spaß!), zweien fällt mehr ein als einem; im dialogischen Gespräch tauchen neue (alte) Erinnerungen auf. Und sie schulen ungemein die Schlüsselkompetenzen der Sprache und Kommunikation.

Als gute weitere „Vergissmeinnicht-Möglichkeiten“ für die Partnerarbeit seien erwähnt:
Das wechselseitige Vorlesen kleiner, in sich geschlossener Kapitel (Zuhören üben!);
Das gemeinsame Lösen von Fällen als Denksportaufgaben;
Das gegenseitige Erklären (wichtig!) von Problemen;
Das freie Vortragen der Falllösungen;
Das „Ich-unterrichte-dich – Du-unterrichtest-mich-Spiel“ frei nach dem römischen Motto: Docendo discimus: beim Lehren lernen wir;
Formulierungsübungen;
Das wechselseitige Abrufen gespeicherten Wissens;
Jura-Quiz.

Partnerarbeit macht einfach mehr Spaß als das isolierte Brüten, birgt aber auch die große Gefahr oberflächlichen Zeitvertreibs und blödelnder Ablenkung.

6. Der beste Lernerfolg ist keineswegs dadurch zu erzielen, dass man die zur Verfügung stehende tägliche oder wöchentliche Gesamtwiederholungszeit nur einseitig durch reine Wiederholung in Form erneuten „Durcharbeitens“ nutzt. Die „stumpfe“ Wiederholung ist eine unproduktive Wiederholung und führt nicht zur bestmöglichen, längerfristigen Einprägung. Sie ist auf Dauer langweilig. Besser ist es, wenn Sie die Gesamtwiederholungszeit im fliegenden Wechsel in die angeführten alternativen Möglichkeiten aufteilen. Varietas delectat, lat.: Abwechslung erfreut: Karteikarten, Partnerarbeit, Ich-unterrichte-dich–du-unterrichtest-mich-Spiel, Quiz, Flipchart-Arbeit, Erneutes Durcharbeiten, Selbstprüfung im Selbstgespräch. Dadurch verhindern Sie am wirkungsvollsten, dass sich Lernhemmungen aufbauen und dass Sie dem ewigen Vergessen hilflos ausgeliefert sind. Durch abwechslungsreiche Wiederholungen sind Sie es gerade nicht!

7. Wiederholungen haben nicht nur den unbestreitbaren Sinn, Sie im Abwehrkampf gegen das Vergessen zu unterstützen, vielmehr auch den, Sie in Ihrem Wissen zu bestätigen (Belohnungseffekt), Sie aber auch mit Ihrem Nichtwissen zu konfrontieren (Bestrafungseffekt) und Sie dadurch zu einem lernstrategischen Weiter-so oder einem Umdenken und vielleicht zu neuen Lernansätzen zu animieren.

8. Der wichtigste Tipp: Das Recht darf man nicht nur in Begriffssystemen suchen, sondern immer im alltäglichen Leben. Am wichtigsten ist das Training am wiederholenden Fall! Jura ohne Fall, Gesetz ohne prägenden Sachverhalt gibt es nicht. Das Leben besteht aus Alltag. Auch Ihr Wiederholungs-Lernen darf es ohne Fall eigentlich nicht geben! Sie wissen schon: Zunächst am einfachen Normalfall, dann erst am komplexen Exoten!

9. Ein letzter Tipp zum Wiederholen: Teilen Sie das Wiederholungsprogramm so ein und grenzen Sie es zeitlich so ab, dass es nicht zu stark mit den anderen Phasen Ihres Lernens in Konflikt gerät. Wichtig ist die Wiederholung! Wichtiger die Eroberung neuen Stoffes! Noch wichtiger, dass man das Wiederholte verstanden hat! Man kann nämlich nur wiederholen, wieder hervorholen, was man sich angeeignet und bewahrt hat. Also trennen Sie die Phasen scharf voneinander ab, damit nicht alles zerfließt:
 Ohne neue Begegnung mit Jura (Aneignungsphase) – kein Aufheben des Erlernten (Bewahrungsphase)
 Ohne Aneignung und Bewahren – kein Wiederhervorholen (Wiederholungsphase)
 Ohne gezielte Wiederholung – kein Verstehen und keine Verankerung im LZG (Fixierungsphase)
 Ohne Verankerung im LZG kein kompetenter Einsatz der erworbenen Lernpotentiale im Ernstfall der Klausur (Reproduktionsphase).

Eine kleine, hoffentlich hilfreiche Lebensweisheit zum ewigen Wiederholen für Sie:
Begehre nicht nur das, was du nicht weißt! Genieße öfter das, was du schon weißt!
Das ist Balsam für die geschundene Juraanfängerseele. Also wiederholen Sie öfter das Alte!

Beitrag: 83 Was das eigentlich ist, was man da studiert: das Recht?

Kennen Sie die Geschichte von der „schwarzen Katze im schwarzen Sack“? – Nein?

Ein Theologe und ein Philosoph streiten sich über den Inhalt ihrer Wissenschaft. Der Theologe zum Philosophen: „Ihr kommt mir vor, wie jemand, der in einem dunklen Raum versucht, eine schwarze Katze, die aber gar nicht da ist, in einen schwarzen Sack zu stecken.“ Darauf der Philosoph zum Theologen: „Ihr kommt mir vor, wie jemand, der in einem dunklen Raum versucht, eine schwarze Katze, die aber gar nicht da ist, in einen schwarzen Sack zu stecken, raus kommt und ruft: ,Ich habe sie!!’ “

Das Recht – die schwarze Katze im Sack der Juristen? – Schade, wenn es so wäre! Denn: Bliebe nicht das „Studium der Rechte“ bloß aufgerafftes Wissen ohne einen metaphysischen Hintergrund über das Recht, seine Geschichte und seine gelebte Wirklichkeit? Ohne bestimmte Fragen zumindest aufzuwerfen?

So fremd ist Ihnen das Wort „Recht“ nicht. Sie kennen: waagerecht, senkrecht, Rechteck, aufrecht, rechter Winkel, rechte Hand, die rechte Seite von Stoffen, rechtschaffen und Rechtschreibung. Sämtliche Wörter leiten sich ab vom lateinischen „rectus“ (gerade, richtig) und von dessen Infinitiv „regere“ (gerade richten). Die heute geläufige Verwendung „rechts“ als Gegenwort zu „links“ entwickelte sich an der Vorstellung des Gebrauchs der rechten Hand als geeignet, als richtig – auf der „rechten“ Seite. Recht ist also sprachlich die Substantivierung dieses Adjektivs und beschreibt damit auch seine Funktion als „Geraderichtendes“, als „Richtigmachendes“ – den Richter („richten“) als denjenigen, der etwas Krummes gerade macht, in eine waagerechte Stellung bringt – also Recht spricht. Deshalb wohl auch die Waage als Symbol.

Ihr Vorhaben ist es jetzt, „Recht“ und „Gesetz“ zu studieren. Recht und Gesetz haben für unser Leben und Wirtschaften einen enormen Rang –das Wissen um Recht und Gesetz haben leider in der Gesellschaft nicht annähernd den gleichen Rang.

Die Frage „Was ist Recht?“ ruft selbst bei Examenskandidaten das blanke Entsetzen auf die Gesichter. Diese scheinbar so einfache Frage nach dem Begriff des Rechts, die am Anfang und Ende der „rechts“-wissenschaftlichen Ausbildung stehen müsste, erfährt in der Ausbildung eine stiefmütterliche Unterbewertung. Will man also mehr darüber wissen, ist man weitgehend auf sich selbst gestellt und muss seinen Weg allein finden. Offensichtlich sind die Juristen immer noch auf der Suche nach dem Begriff von Recht. Das ist ein rechtsphilosophisches Schlachtfeld für die Rechtswissenschaft. Zwischen Prüfern und Kandidaten besteht denn auch die augenzwinkernde Absprache, dass man die Frage wie die Antwort nach dem Recht nicht ganz ernst nimmt. „Ich wollte nur einmal testen, wie Sie mit dieser schwarzen Katze im Sack der Juristen umgehen.“ So augenzwinkernd wollen wir es auch halten.

Bei der Beantwortung der Frage „Was ist Recht?“ geht es vielen so wie einem lieben Kollegen: „Wenn mich keiner fragt, weiß ich es; wenn ich es einem Fragenden erklären soll, weiß ich’s nicht.“ Das Schlimme daran ist: Keiner kann die Frage so richtig beantworten. Schon der Versuch einer Definition fällt schwer.

Wir wissen schon: „Jus“ heißt das Recht und „Jura“ die Rechte und „Juristen“ sind die, die sich mit Recht beschäftigen, und „Jurastudenten“ sind „Frühchen“ auf dem Wege zum Recht und „Juristerei“ ist alles, was mit Recht und Gesetz zu tun hat einschließlich der damit beschäftigten Personen. Aber was ist das Recht?

Das menschliche Zusammenleben wird erst ermöglicht, wenn sich eine Mehrheit findet, die stärker ist als jeder Einzelne und gegen jeden Einzelnen zusammenhält. Anderenfalls würde immer der physisch Stärkere die Beziehungen im Sinne seiner Lüste, Interessen und Nutzen entscheiden. Wäre das Recht nicht, hätte der am meisten, der sich das Meiste nimmt. Die Macht dieser Gemeinschaft stellt sich nun als „Recht“ der Macht des Einzelnen, die als „rohe Gewalt“ verurteilt wird, entgegen. Die Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die ordnende, Recht setzende Macht der Gemeinschaft und der dieses Recht kontrollierenden Gerichte ist wohl der entscheidende kulturelle Schritt gewesen für das Zusammenleben in der Menschheitsgeschichte. Am Anfang herrschte das Chaos – dann herrschten Recht und Gerichte!

Recht umfasst, und das macht den Begriff so wenig griffig, mehrere Bedeutungen:
Erstens: Der Begriff Recht umfasst die Gesamtheit des Rechts mit allen Nebenschauplätzen, also das positive Recht, aber auch die Justiz und die Rechtswissenschaft („Alles, was an Gesetzen in der Welt ist und alle Institutionen, die sich damit beschäftigen“).

Zweitens: Der Begriff Recht beinhaltet nur die geltende Rechtsordnung, also nur das gesetzte, positive Recht („Die Summe aller Gesetze“).

Drittens: Der Begriff Recht beschränkt sich auf den maßgebenden normativen Grundgehalt, also die Rechtsprinzipien, die eine Rechtsordnung ausmachen („Das Rechtsstaatsprinzip“).

Viertens: Der Begriff Recht meint nur objektiv die einzelne Norm („Das Recht auf …“).

Fünftens: Der Begriff Recht umfasst nur subjektiv den einzelnen Anspruch („Ich habe ein Recht aus … auf …“).

Und „Recht“ wirft verdammt viele Fragen auf:

Ob es ein „Göttliches Recht“ oder ein „Naturrecht“ gibt?

Ob das „positive, statuarische Recht“, das aus dem Willen des Gesetzgebers hervorgeht, mit dem „Vernunftrecht“ übereinstimmen muss?

Ob es ein „Recht a priori“, also ein von der Erfahrung und der Wahrnehmung unabhängiges, durch jedes Menschen Vernunft erkennbares Recht überhaupt gibt?

Ob das Recht nur aktuelles Konsensrecht der Parlamentsmehrheiten ist oder ob es einem alle Menschen verbindenden ewigen Rechtsgefühl entspringt?

Ob es ein in „Recht“ gegossenes „Unrecht“ gibt – oder ist das widersinnig?

Wo kommt es historisch her, wie kommt es in der Gesellschaft an, wie wird es er- und gelebt?

Aber was ist das Wesen dieses uns tausendfach und nahezu überall umschlingenden „Rechts“? Darauf gibt es zwei mögliche Antworten:

 Entweder könnte das Wesen des Rechts das sein, was sich Menschen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort als mögliche durchsetzbare, jederzeit abänderbare Regeln selbst schaffen. Ein mehr oder weniger geordnetes Netzwerk von Ge- und Verboten, inspiriert von dem Wunsch nach Sicherheit und Ordnung und davon bestimmt, welche Gruppe oder Einzelperson gerade die größere Macht hat, ihre Interessen durchzusetzen. Recht wäre damit im zeitlichen Nacheinander beliebig. Recht wäre der in Gesetze fixierte Zeitgeist.
 Oder das Wesen des Rechts könnte auch in einem unabänderlichen von der „Natur“, von „Gott“ oder der menschlichen „Vernunft“ vorgegebenen System von Richtig oder Falsch, Gut oder Böse liegen, das zu erkennen und in seinen Gesetzen abzubilden, von den Menschen immer nur versucht werden kann. Recht wäre somit nicht zeitlich begrenzt und gesetzlich beliebig fixierbar, sondern entweder als Natur-, Gottes- oder aber als Vernunftrecht ewig.

Die Frage „Was ist Recht?“ schnell und einfach zu beantworten mit dem Entweder: „Recht ist, was Gesetz ist!“ oder mit dem Oder: „Recht ist ein der Menschheit von Gott, der Natur oder der menschlichen Vernunft vorgegebenes System“, werden tiefer interessierte Studenten nicht akzeptieren. Die Frage lässt sich für diese Studenten überhaupt nicht schnell und einfach und im Vorübergehen beantworten.

Die mannigfaltige Vielfalt möglicher Antworten folgt aus einem Grundproblem, mit dem es das Recht spätestens seit der Aufklärung zu tun hat. Dass nämlich der Freiheit des Einzelnen zwei wesentliche Elemente gegenüberstehen: Die Freiheit des Anderen und die Aufrechterhaltung der ordnenden Gemeinschaft, in der sich der „Einzelne“ und der „Andere“ bewegen und die die Grundlage der Freiheit des „Einen“ und des „Anderen“ ist.

Und hier nun eine kleine Auswahl von Definitionen großer Leute von „Recht“:

Das Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann (Kant: die schönste Definition).
Dies, dass ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. Es ist somit überhaupt die Freiheit der Idee (Hegel: die dunkelste Definition).
Die Summe der in einem Staat geltenden Zwangsregeln ist Recht (Ihering: die kürzeste Definition).
Das für politische Gemeinschaften geltende Recht zerfällt in das natürliche und das gesetzliche. Natürlich ist jenes, das überall die gleiche Kraft besitzt, unabhängig davon, ob es anerkannt ist oder nicht. Gesetzlich ist jenes, dessen Inhalt so oder anders sein kann und erst durch positive Feststellung so bestimmt wird (Aristoteles: die bedeutendste Definition, da sich hier erstmals die Unterscheidung zwischen Naturrecht und positivem Recht findet, die für Jahrtausende das Denken bestimmt hat).

Für Sie als Jurastudent ist es am Anfang weniger wichtig, das Wesen des Rechts und seinen Ursprung irgendwo im metaphysischen Nebel von Gott, Natur oder Vernunft zu suchen, als vielmehr die Aufgabe, d.h. die Funktion des positiven Rechts zu erkennen:

Recht hat die Aufgabe, das gedeihliche Zusammenleben zwischen den Menschen in der Gesellschaft, in den Familien, der Ehe und im Beruf zu ordnen, Konflikte zu vermeiden, zu schlichten und notfalls im Streitfall Konflikte zu entscheiden und die Entscheidungen zwangsweise durchzusetzen. Recht ist quasi die Verkehrsordnung, die Gesetze sind die Verkehrsregeln und die Beschilderungen für die Gesellschaft! Wie man den Verkehr regelt, ist letztlich egal (Links- oder Rechts-Verkehr). Nur, dass man ihn regelt, ist wichtig. Mittel für die Lösung dieser Aufgabe sind in einem Rechtsstaat ausschließlich die demokratisch zustande gekommenen Gesetze mit ihren Anordnungen von Rechtsfolgen. Rechte sind in ihm Geschöpfe der Gesetze, nicht der Natur. Unsere Bundesrepublik ist ein solcher Rechtsstaat. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Der Rechtsstaat muss sich täglich neu beweisen. Nicht immer gelingt das.

Neben dieser „Zusammenlebenoptimierungsfunktion“ kommen unserem Recht weitere wichtige Funktionen zu, die letztlich alle an der Idee der Gerechtigkeit ausgerichtet und auf weitere Vernunft gegründet sein müssen. Gerechtigkeit und Vernunft müssen im positiven Recht des Staates Gestalt gewinnen.

 

Die juristischen Paarungen mit dem Wort „Recht“ sind unübersehbar. Die bekanntesten binären Begriffe, die Sie kennen sollten, sind folgende Begriffspaare:

 Objektives Recht – subjektives Recht
Objektives Recht ist die Gesamtbezeichnung für die verbindlichen Normen in unserem Staat, also die Summe aller Rechtsnormen (die Rechtsordnung): BGB plus StGB plus HGB plus StPO plus ZPO plus öffentliches Recht plus, plus, plus – all diese Statuten bilden das objektive Recht.
Dagegen steht das subjektive Recht, worunter die Befugnis oder der Anspruch des Einzelnen gegen einen anderen Einzelnen zu verstehen ist. Das Kaufvertragsrecht (§ 433 ff. BGB), das Eigentumsrecht (§ 903 BGB) und das Deliktsrecht (§ 823 ff. BGB) sind Bestandteile des objektiven Rechts. Wenn Sie aber einen Kaufvertrag über Ihr altes Auto konkret geschlossen haben, dann haben Sie gegen Ihren Käufer eine Forderung auf Geld (§ 433 Abs. 2 BGB), also auf das, was Ihnen von Rechts wegen gegen den Käufer zusteht: Ihren Anspruch, Ihr subjektives Recht. Ihr neues Auto ist Ihr Eigentum, Ihr Recht – das, was Ihnen von Rechts wegen zusteht: Ihr subjektives Recht. Wenn T Ihnen das neue Auto einschlägt, dann haben Sie gegen T ein subjektives Recht auf Schadenersatz (§ 823 Abs. 1 BGB). Die wichtigsten subjektiven Rechte sind im Verhältnis Bürger gegen Bürger die durch Vertrag (§§ 433, 611, 641, 535 BGB) oder Gesetz (§§ 812, 677, 823 BGB) begründeten schuldrechtlichen Ansprüche sowie im Verhältnis Bürger gegen Staat die schützenden und abwehrenden Grundrechte des Grundgesetzes.

 Materielles Recht – formelles Recht
Materielles Recht umfasst alle Rechtsvorschriften, die Gebote und Verbote als Verhaltensregeln aufstellen, z.B. das BGB und das StGB: Du sollst! Du sollst nicht!
Das formelle Recht umfasst alle Verfahrensvorschriften zur Feststellung und Durchsetzung des materiellen Rechts.
Das materielle Recht ist ohne das formelle Recht wie ein Messergriff ohne Klinge, wohingegen das formelle Recht ohne materielles Recht eine Klinge ohne Schaft ist. Dass der Verkäufer vom Käufer den Kaufpreis verlangen kann, regelt das Gebot des materiellen Rechts in § 433 Abs. 2 BGB. Wie dieser Anspruch aber festgestellt (Erkenntnis) und notfalls durchgesetzt (Vollstreckung) werden kann, regelt dagegen das formelle Recht der Verfahrensordnung der ZPO. Dass A den B nicht töten darf, regeln die materiellen Verhaltensregeln der §§ 211, 212 StGB. Wie die Tat dagegen festgestellt (Erkenntnis) und eine mögliche Strafe durchgesetzt werden kann (Vollstreckung), regelt die formelle Verfahrensordnung der StPO. Dass ein Grundstück durch Auflassung und Eintragung in ein Grundbuch übertragen werden muss, gebietet das materielle Recht des BGB in §§ 873 Abs. 1, 925 BGB. Unter welchen Voraussetzungen die Eintragung aber erfolgt, regelt dagegen die formelle Grundbuchordnung (GBO).

 Absolutes Recht – relatives Recht
Absolute Rechte sind gegen jedermann wirkende Persönlichkeits- und Herrschaftsrechte. Persönlichkeitsrechte sind das Recht auf Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, das Namensrecht und das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Das wichtigste Herrschaftsrecht ist das Eigentum, an dem Dritten wiederum absolute Rechte (Grundpfandrechte) eingeräumt werden können. Sie sind geschützt vor Verletzungen gem. § 823 Abs. 1 BGB.
Relative Rechte beschränken sich dagegen darauf, einer Person einen Anspruch zu gewähren, also eine andere Person zu einem Verhalten zu verpflichten (z.B. § 433 BGB). Sie wirken nur im Verhältnis der Personen (relativ) untereinander.

 Zwingendes Recht – nachgiebiges Recht
Zwingendes Recht liegt vor, wenn der Gesetzgeber im Interesse der Gerechtigkeit und der allgemeinen Sozialstaatlichkeit oder zum Schutze Dritter Abänderungen der Gesetze durch die Bürger als Vertragsparteien nicht zulässt. So muss der Verein einen Vorstand haben – § 26 BGB; der Verbraucher (§ 312 f BGB), der Mieter (§ 547 Abs. 2 BGB) und der Arbeitnehmer (Kündigungsschutz) müssen gegen die stärkeren Unternehmer, Vermieter und Arbeitgeber zwingend geschützt werden, anderenfalls diese Stärkeren immer nur ihre Interessen durchsetzen würden.
Nachgiebiges Recht (auch dispositives Recht genannt) liegt dagegen vor, wenn der Gesetzgeber Abänderungen durch die Beteiligten, die sog. Vertragsparteien, zulässt. So können die Kaufvertragsparteien statt der im Gesetz für Gewährleistungsansprüche vorgesehenen Ansprüche einen Haftungsausschluss gem. § 444 BGB vereinbaren.

 Positives Recht – überpositives Recht
Positives Recht ist das in einer Rechtsgemeinschaft kraft geschriebenen Gesetzes geltende Recht (lat.: positivus, gesetzt, gegeben).
Unter überpositivem Recht versteht man das (vorgeblich) jeder menschlichen Gesetzgebung vorgegebene Recht: Schon mit der Natur des Menschen sei ohne Weiteres eine Ordnung des menschlichen Zusammenlebens vorgegeben, insbesondere die daraus folgenden Ansprüche und Pflichten gegenüber anderen. Sie bedürften, um verbindliches Recht zu sein, keiner Kundmachung oder schriftlichen Niederlegung, insbesondere nicht durch einen Staat, der seinerseits nur innerhalb dieser natürlichen Ordnung und nie gegen sie wirksam Gesetze und Richtersprüche erlassen kann. Das Recht begründe sich so von selbst, ob nun Menschen darüber Buch führten oder nicht. Der Gottesgläubige sieht die Wirksamkeit und Verbindlichkeit dieses überpositiven Rechts in der Schöpfungsordnung begründet (göttliches Recht). Der nicht Gottesgläubige verankert sie in der Natur (Naturrecht) oder in dem Wesen des „vernünftigen“ Menschen, so wie er Vernunft versteht und erkennt (Vernunftrecht).

 Richterrecht
Ein Problem ist die spannende Frage, ob es ein von Richtern geschaffenes „Richter-Recht“ gibt. Rechtsnormen umfassen nur ganz abstrakt gemeinverbindliche Regelungen zwischen allen Menschen (inter omnes). Gerichtliche Urteile und Beschlüsse ordnen dagegen Rechtsfolgen in ihrem Entscheidungsausspruch (Tenor) ganz konkret zwischen Menschen an. Dieses Urteil oder dieser Beschluss gelten nur für diesen Einzelfall und sind nur für diese Parteien verbindlich (inter partes). Der Richter erzeugt deshalb grundsätzlich kein Recht, sondern wendet das Recht an.

Ich hoffe, dass ich mich Ihrer Frage „Was ist Recht?“ zumindest gestellt und somit wieder einmal dem „Ratschen-Effekt“ gedient habe. Der „Ratschen-Effekt“ ist benannt nach dem rasselnden, sich nur in eine Richtung drehenden Kinderspielzeug. Jeder neue Entwicklungsschritt baut auf dem vorangegangenen auf, wobei – wie bei einer Ratsche – das Zurückrutschen in frühere Zustände verhindert wird. Wir haben die Kompliziertheit des „Rechts“ hoffentlich etwas reduziert. Sie sind klüger geworden – es gibt kein Zurück mehr hinter den Begriff „Recht“! Bleiben Sie dran! Bleiben Sie neugierig! Morgen drehen wir mit dem „Gesetz“ weiter an der juristischen Ratsche.