Beitrag: 14 Wer und was das Gesetz ist?

Nachdem wir nun wissen, was es mit dem Rechtsstudium so auf sich hat, kommen wir zu dem Medium, in dem das Recht als Zeitgeist fixiert ist – dem Gesetz. Die drei wichtigsten Gegenstände zum Jurastudium sind nun einmal für den Jurastudenten: Gesetze, Gesetze, Gesetze.
Das Gesetz ist der Souverän in unserem Staat. Es hat nach Jahrtausenden der Willkürherrschaft durch von „Gott“ eingesetzte Monarchen und selbst ernannte Diktatoren die demokratische Macht übernommen. Was es mit ihm auf sich hat, muss wissen, wer es als Jurastudent mit ihm aufnehmen will. Während Moses noch mit 10 Gesetzen auskam, benötigt der Jurastudent das Zigfache, allein im BGB 2385 Paragraphen! Aber seien Sie beruhigt: Auch hier gilt die Wahrheit: Hinter der Vielheit der Gesetze steht eine Ordnung, die einfacher ist als ihre Vielheit. Alle Gesetze sind nämlich miteinander verwandt. Wir werden die Verwandtschaft jetzt kennen lernen.

Die harte Arbeit am und mit dem Gesetz ist eine Erkenntnis, die sich für einen Juristen von selbst verstehen sollte. Die Gesetze sind die Einzelteile unserer Rechtsordnung. Der Umgang mit dem Gesetz und dem sich in ihm spiegelnden Fall ist der Dreh- und Angelpunkt der Juristerei. Wer mit Jura anfängt, sollte möglichst schnell mehr und mehr an und mit diesen Gesetzen lernen, bevor er in professorale Meinungsstreitereien verfällt, Literatur- und Rechtsprechungsansichten „gesetzlos“ gegenüberstellt und mit vorgegebenen Argumentationen abgleicht. Das Gesetz ist kein leidiger Zusatztext zu juristischen Streitereien zwischen Wissenschaft und Rechtsprechung in ellenlangen Bücherregalen. Das Gesetz ist immer (!) der Ausgangstext, es ist das A und O der Juristerei. Seine gewissenhafte Lektüre mag aufwendig sein, stets ist sie unverzichtbar.

Versuchen Sie es immer erst einmal selbst mit dem Gesetzestext, ehe Sie zu Kommentaren greifen. Sie müssen dabei gerade in Ihrem ersten Semester ganz im Gegensatz zu Ihren „Vorlesern“ ein uneingeschränktes Vertrauen in die prinzipielle Erkennbarkeit der Gesetze entwickeln. Sie müssen sich den Gesetzgeber als „vernünftig“ denken, womit dieselbe Vernunft logischerweise auch in den gesetzgeberischen Schöpfungen allgegenwärtig sein muss – eben in seinen Gesetzen. Im Gebrauch Ihrer eigenen Vernunft werden Sie folglich am gesetzgeberischen Willen teilnehmen, an einer grundsätzlich der Vernunft zugänglichen Welt. Wir werden gleich gewisse juristische Auslegungsmethoden entwickeln, um diese Welt zu entschlüsseln, sozusagen der Vernunft etwas auf die Sprünge zu helfen. Die Gesetze sind keine tote Materie. Sie müssen die Gesetze eben zum Leben bringen. Setzen Sie auf die gesetzgeberische und Ihre eigene Vernunft! Später, wenn Ihr Fundament fest steht, können Sie das Zutrauen einschränken und die Juristen mit ihren Gesetzen kritischer hinterfragen, dabei aber niemals Ihr Vertrauen verlieren.

Wurden im Anfang diese „Gesetze“ noch kraft Gewohnheitsrechts von Generation zu Generation mündlich „tradiert“, so änderte sich das mit der Erfindung der Buchdruckkunst gewaltig. Das „Gesetzbuch“ war bald das Buch, das alle bisherigen Gewohnheitsrechte ersetzte. Die „Rechte“ schrumpften zusammen auf papierene Paragraphen zwischen zwei Buchdeckeln. Buch und Gesetz waren eins! – Was im Buch stand, war Gesetz! –Aber in unserer modernen Zeit leider nur für einen Moment. Buch und Gesetz leben nämlich nur jeweils eine juristische Sekunde untrennbar zusammen. Danach driften sie wieder auseinander. Das Gesetz bleibt im Buch, seine Bedeutung zieht weiter. Immer wenn ein Gesetz eine Diskussion beenden soll, schafft sie gerade durch diese Operation eine neue Diskussion. Das Gesetz lässt sich eben durch ein Gesetzbuch nicht stillstellen! Schon am Tag des Inkrafttretens treten nämlich Deuter, Urteiler, Ausleger, Erklärer in Gestalt von Richtern, Rechtspflegern, Anwälten und Professoren auf den Plan und fügen dem jeweiligen Gesetz-„Buch“ Aufsätze, Urteile, Beschlüsse, Kommentare hinzu, die sich zu neuen „Büchern“ auswachsen, die man dann die „Juristische Literatur“ und die „Rechtsprechung“ nennt und aus denen irgendwann wieder neue Gesetze werden.

Alle Gesetze stammen aus dem Bereich der sog. normativen Gesetze. Bei den normativen (lat.: norma, Richtlinie; frei übersetzt: als Richtschnur dienend) Gesetzen unterscheidet man zwischen:
juristischen Gesetzen und
moralischen Gesetzen.

In beiden Arten wird eine „Richtschnur“ für menschliches Verhalten formuliert, zu deren Einhaltung die Menschen verpflichtet sind. Während bei „juristischen Gesetzen“ nur das äußere Verhalten vorgeschrieben wird, beziehen sich „moralische Gesetze“ auf die innere Haltung gegenüber den Handlungskategorien von „gut“ und „böse“. Verstöße gegen juristische Gesetze werden von staatlichen Instanzen geahndet. Die Einhaltung moralischer Gesetze ist staatlich nicht erzwingbar. Die juristischen Gesetze gehören zu dem großen Bereich des Rechts, moralische Gesetze zu dem der Sitte und Ethik.

Man sieht sich im Bannkreis dieses Themas „Gesetze“ oft gezwungen, für Erstsemestler auf Offenkundiges hinzuweisen:
Der Umgang mit der Hauptliteratur im Jurastudium, das sind nämlich die Gesetze, wird am Anfang zu wenig mit ihnen geübt!
Die Hilfsliteratur, die Lehrbücher und Kommentare, haben leider oft schon zu Beginn der juristischen Ausbildung viel zu schnell die Lufthoheit über den juristischen Lehr- und Lernstühlen erobert.

Der Student lernt sein Ur-Handwerkszeug, das Gesetz, nicht richtig kennen! Die Arbeit am Gesetz und mit dem Gesetz wird in der Ausbildung vernachlässigt! Nicht von der Literatur zum Gesetz, sondern vom Gesetz zur Literatur, muss der Ausbildungsweg fortschreiten. Zunächst müssen
● die „ipsissima verba“, die „ureigenen Worte“, des Gesetzes, seine Tatbestandsmerkmale, geklärt werden,
● sein programmatischer Aufbau studiert,
● seine Auslegung trainiert
● und der Umgang mit ihnen im Gutachten am Fall geübt werden,
ehe man sich in juristischen Theorien und Meinungsstreitereien verliert. Die Studenten sind bei einem solchen Vorgehen ohnehin längst auf der Strecke geblieben. Auch die schönste „Meinung“ Ihres Professors muss es nun mal ertragen, dass das Gesetz existiert. Nur das Gesetz verfügt über die Authentizität, die Echtheit – alles andere ist Beiwerk. Die Lehrmeinung muss sich an die Wirklichkeit des Gesetzes anpassen, nicht das Gesetz an die juristische Lehrmeinung. Lex est rex in terra iuris: Das Gesetz ist der König in Jurististan!

In der Klausur haben Sie nur dieses „Chamäleon Gesetz“ zur Hand, das nimmt Ihnen niemand weg! Es ist der Anker für Ihr juristisches Gedächtnis. „Ich habe die Lösung der Klausur nicht im Gesetz gefunden! Sie muss doch irgendwo stehen!“ Ja, tut sie! Sie haben aber leider das Gesetz nicht richtig gelesen! Und nur, wer schon beim Lernen mit dem Gesetz arbeitet, findet sich auch in der Klausur darin gut zurecht.

Ganz wichtig ist es, früh zu erkennen, dass jedes Gesetz einen doppelten Körper hat: einen sichtbaren und einen unsichtbaren. Den sichtbaren repräsentiert der Wortlaut und erschließt sich durch die Auslegung, der unsichtbare weist auf sein Ziel hin, das télos. Sie müssen sich zunächst immer für die Seiten der Gesetze interessieren, die sie Ihnen Wort für Wort zuwenden, aber sehr bald auch für die, die sie Ihnen hinter den Wörtern verbergen.

Die Grundlagen für den Umgang mit der Gesetzesarbeit müssen Sie im ersten Semester legen, da Sie von der Schule her mit einem solchen Umgang nicht vertraut sind. Nur Mut! Es sind im Anfang nicht viele Paragraphen. Es ist kein Kampf gegen Windmühlenflügel, Sie müssen den „Kampf mit dem Gesetz am Gesetz“ gewinnen. Malen Sie sich immer aus, welcher Fall hinter der gesetzlichen Regelung steht, welcher „Normalfall“ für den Gesetzgeber Pate gestanden hat.

Wenn Ihr Professor sagen sollte, das Gesetz sei noch zu kompliziert für Sie und zu abstrakt und lückenhaft, Sie sollten es beiseite legen, er müsse es Ihnen erklären und nur er könne das, glauben Sie ihm nicht. Lesen Sie es selbst nach! Der Gesetzgeber wird oft zu Unrecht als unpräzise, zu kurz, zu eng, zu lang, zu breit oder zu unsystematisch formulierend gescholten. Er kann als Gestalter vielfältiger Sachverhalte und Interessen oft nicht anders, als abstrakt und generalisierend zu formulieren. Das sollten Ihnen Ihre Professoren öfter klar machen. Stellen Sie die Gesetze nicht immer in Frage und springen Sie nicht gleich in die Sekundärliteratur der Kommentare und Lehrbücher. Das Gesetz hat Schwächen, aber mehr anerkennungswürdige Stärken, die den Schwächen meist überlegen sind. Es muss immer Ihr erster Ansprechpartner sein bei der Beantwortung sämtlicher Rechtsfragen. Die Gesetzeskenntnis, ihr folgend das Gesetzesverständnis, und die ständige Neugier, neue Gesetze in ihren Details zu ergründen, sind mehr wert als alles juristische Lehrbuch-Wissen. Lassen Sie deshalb das Gesetz immer einsatzbereit und einsprungbereit neben sich aufgeschlagen liegen, und lesen Sie jedes Gesetz nach! Lesen Sie es stets im Stile absoluter Gewissenhaftigkeit, besser noch: pedantischer Kleingeistkrämerei! Es lohnt sich wirklich!

Diese Gesetze fallen nun alle nicht vom Himmel! Sie sind von Menschen gemacht in einem komplizierten, verfassungsmäßig vorgeschriebenen Verfahren. Ihr Geburtsakt ist im Grundgesetz genauestens festgelegt und das „Kind“ Gesetz hat viele „Väter und Mütter“, die jedes Wort wohlüberlegt „gesetzt“ haben. Das wird Ihnen Ihr Verfassungsrechtsprofessor erklären. Wir steigen morgen direkt ins Innere der Gesetze ein.