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Beitrag: 52 Was Definitionen sind, und wozu sie gut sind?

Dialog in einem Gespräch: „Wir müssen aber zunächst mal, bevor wir weiterreden, die Begriffe definieren.“ – „Wenn wir alles und jedes definieren wollen, kommen wir doch nie zu einem Ende.“ Diskussion tot? – In der normalen Diskussion, ja! In der juristischen Diskussion, nein! Definitionen sind hier unumgänglich, um Eindeutigkeit herbeizuführen. In ihnen geht es darum, Wortdeutungen genauer festzulegen, genauer anzugeben, Wörter in den genaueren Ausdruck zu stellen, von anderen Wörtern abzugrenzen, Begriffe zu schärfen. Doch es geht bei den Juristen noch um mehr: Denn Definitionen sind nicht nur genaue Feststellungen, sondern zugleich Verabredungen. Es wird zwischen und für Juristen vereinbart, dass eine ganz bestimmte Bedeutung von nun an in einem bestimmten Gesetzeskontext gelten soll. Diese „Verabredung“ trifft in Zivil- und Strafsachen meist der Bundesgerichtshof (BGH), in grundgesetzlichen Fragen des BVerfG, wobei dieses Wort „Verabredung“ definitionsbedürftig ist.

Vater zur Tochter: „Du bist schon wieder zu spät! Wir hatten 24.00 Uhr verabredet. Mir scheint, Du hast Probleme mit Verabredungen.“ Tochter zum Vater: „Nein, mit Verabredungen nicht, aber mit Anordnungen.“

Also! Der BGH und das BVerfG „ordnen“ „Verabredungen“ in Form von Definitionen an, legen Inhalte fest und glauben sich hierbei mit allen Juristen einig. Sie schaffen aus Mehrdeutigkeit begriffliche Eindeutigkeit.

Der Student braucht Definitionen, weil er die genaue Bekanntschaft mit den ungenauen tatbestandlichen, gesetzlichen Begriffen erst durch die Definitionen macht. Weil jede Auslegung eines Tatbestandsmerkmals früher oder später in eine solche Definition mündet. Eine Definition (lat.: definitio, Begriffsbestimmung) ist eine Worterläuterung, eine inhaltliche, begriffliche Abgrenzung (lat.: finis, Grenze; definare, abgrenzen). Solches „Abgrenzen“ und „Bestimmen“ sind in der Juristerei äußerst nützlich. Die Beherrschung solcher Definitionen ist kein Ballast, das Abverlangen ihres genauen Wortlauts keine Schikane, sondern ausschließlich eine Erleichterung für den Subsumtionsprozess. Ihre Definition ist in einer Klausur Ihre genaue Angabe über das, was Sie an Inhalt und Umfang zu einem Tatbestandsmerkmal oder einem juristischen Begriff gedacht haben. Definitionen sind in der Juristerei Gold wert, um sich möglichst genau und differenziert auszudrücken und die Subsumtion auf eine sichere Grundlage zu stellen. Auf den Nichtjuristen wirken sie allerdings oft pedantisch, umwegig, umständlich und diskussionstötend, weil doch jeder oft „aus dem Bauch“ weiß, was gemeint ist.

In der juristischen Logik unterscheidet man herkömmlich zwei Arten von Definitionen:
 Zum einen die sog. Nominaldefinitionen. Darunter versteht man die „Taufe“ von Begriffen, also die Benennung mit einem bestimmten Namen, wie z.B. „Sache“, „fremd“, „Mann“, „Frau“, „Gesetz“, „wegnehmen“.
 Zum anderen die sog. Realdefinitionen. Darunter fasst man die Bestimmung des Wesens, der Eigenart eines Gegenstandes, eines Adjektivs oder eines Verbs, das, was nur ihm eigen ist, was es prägt, wie z.B. „Sache ist ein …“, „fremd ist eine Sache, die …“, „Mann ist ein …“, „Frau ist eine …“, „Gesetz ist ein …“, „Wegnehmen ist …“.
 In der Juristerei kommt noch eine dritte Art von Definition hinzu: Eine vom Gesetzgeber selbst vorgenommene Begriffsbestimmung, die wir mit einer Nominaldefinition Legaldefinition taufen. Vorweg ist immer zu überlegen, ob der Gesetzgeber uns die Arbeit der Interpretation nicht durch eine Legaldefinition abgenommen hat, also durch eine Definition im Gesetz selbst, wie z.B. in § 90 BGB (Sachen), § 121 BGB (unverzüglich), § 122 BGB (kennen müssen), § 276 Abs. 2 BGB (Fahrlässigkeit), § 166 Abs. 2 (Vollmacht), § 854 (Besitz), § 903 BGB (Eigentum) oder in großem Umfang in § 11 StGB. Findet man keine solche Legaldefinition, muss man selbst ran und den gesetzlichen Begriff in einer Klausur aus seinem Gedächtnis abrufen oder ihn „freihändig“ definieren.

Diese juristischen Definitionen treten anders als die philosophischen gar nicht mit dem Anspruch an, die fein verästelte Bedeutung eines Wortes bis ins Tiefste auszuloten. Vielmehr möchten sie sich nur zu dem Zweck einer bestimmten Gesetzesmerkmalinterpretation im Interesse aller auf eine bestimmte Gesetzesmerkmalbedeutung mit der Rechtsgemeinschaft einigen. Dabei gesteht man durchaus ein, dass durch die juristische Festlegung eines Tatbestandsmerkmals die Bedeutung eines lebenden Wortes für die Alltagssprache und für alle Lebensvariationen nicht ausgeschöpft werden kann. Alle Arten von juristischen Definitionen sind letztendlich nichts weiter als juristisch-sprachliche Abkommen über Inhalt und Verwendung eines Tatbestandsmerkmals oder Rechtsinstituts. Es sind Übereinkünfte, getroffen von der Rechtsgemeinschaft, vertreten durch die Obergerichte, selten auch durch die Literatur und ganz selten von dem Gesetzgeber selbst. Würde jeder Richter oder Gesetzesanwender definieren, wie er will, würde die Vergleichbarkeit fehlen. Die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung und damit die Gleichheit vor dem Gesetz und damit letztlich die Gerechtigkeit würden auf der Strecke bleiben.

Für Juristen sind die Realdefinitionen von überragender Bedeutung. Wie kann man nun Realdefinitionen konstruieren? – Dafür gibt es wieder einmal eine Methode! Was auch sonst, wir sind schließlich in der Juristerei. Für Begriffe – und Tatbestandsmerkmale sind immer Begriffe – ist wesentlich, dass sie eine unterschiedliche Abstraktionshöhe haben und dass abstraktere Begriffe weniger abstrakte, also konkretere, umfassen. Es entstehen Begriffspyramiden. Die untersten Begriffe dieser Pyramide sind in ihrer Angabe so konkret, dass sie nicht mehr unterteilt werden können, und deren Spitze bildet die Angabe eines so abstrakten Begriffs, dass er keinen abstrakteren mehr über sich zulässt.

Ein erstes Beispiel aus der Alltagswelt:

Nehmen wir an, Sie wollen die geschaute „Kirsche“ (Nominaldefinition) in Nachbars Garten definieren. Sie müssen nunmehr hierzu eine Begriffspyramide (Begriffsbaum) entwickeln.

Entscheidend ist für Sie zu erkennen, dass unsere Sprache es uns ermöglicht, durch Steigerung des Abstraktionsgrades unterschiedlich viele Gegenstände zu bezeichnen. Je höher man im Begriffsbaum klettert, desto mehr Gegenstände kann man überblicken. So wie der Lichtkegel einer Hängelampe, die man höher und höher zieht, immer mehr Gegenstände anstrahlt. Dabei verlieren die Begriffe allerdings an substanziellem Inhalt und gewinnen dafür an subsumtionsfähiger Ausdehnung. So umfasst der Begriff „Substanz“ viel mehr Gegenstände als der Begriff „Steinobst“.
Da die Definition in Worten mitgeteilt wird, Worte aber ihrerseits immer Begriffe bezeichnen, bestehen jene definitorischen Angaben auch nur in Hinweisen auf andere Begriffe, die – das ist ein Problem – bekannt sein müssen. Da also das, was in einem Begriff gedacht wird, ausgedrückt wird durch einen weiteren Begriff, der jenen Begriff umfasst (siehe Baumdiagramm), fängt jede Definition damit an, dass sie eine weitere Sphäre angibt, in welcher der zu definierende Begriff liegt. Sie gibt das „Genus“, die Gattung, an, aber immer nur das nächste „Genus“ (genus proximum), weil die Definition ihrem Gegenstand so nah wie möglich kommen muss. Ist der zu definierende Gegenstand „Kirsche“, so gibt sie als „Genus“ „Steinobst“ an. Die Definition versetzt also den Begriff „Kirsche“ zunächst in diese nächsthöhere Sphäre in der Begriffspyramide. Sodann weist die Definition dem Begriff „Kirsche“ seinen eigenen Ort in dieser Sphäre zu, indem sie angibt, was nur ihm alleine zukommt unter den zu diesem „Genus“, dieser „Gattung“, gehörigen Begriffen. Die Definition gibt dem zu definierenden Gegenstand also eine ganz spezifische Unterscheidung, klassisch: die „differentia specifica“. Diese wäre konkret „klein und rot“. Also: Das Haupterfordernis jeder Definition ist „genus proximum et differentia specifica“, auf deutsch: „nächste Gattung und artbildender Unterschied“. – Jetzt erst gibt die Definition den Ort des Begriffs unter den anderen Begriffen genau an.

Im antiken Griechenland hatte man in der Wissenschaftstheorie diese „Begriffsbäume“ entwickelt, um mit ihrer Hilfe zu tiefen Erkenntnissen über das Wesen der Dinge zu kommen. Die Römer stahlen die Methode und machten etwas Praktisches daraus. Sie nutzten die Methode der Griechen für ihre Rechtssysteme und Gesetze.

Die Römer entwickelten diese berühmte Definitionsformel: „Definitio fit per genus proximum et differentiam specificam“. Sie heißt auf Deutsch: Eine Definition erfolgt durch (definitio fit per)
 Verwendung eines Begriffs der nächsthöheren Gattung (genus proximum)
und (et)
 durch Hinzusetzen eines eigentümlichen (spezifischen), abgrenzenden Unterschiedes (differentiam specificam).

Eine Definition wird also durch Angabe eines nächsthöheren Begriffs (Oberbegriffs) und durch Hinzusetzen eines spezifischen Artmerkmals gebildet (sog. Genus-differentia-Methode). Die durch die Begriffsbäume entstehenden Beziehungen sind die Grundlage für die Begriffsbildung durch Definitionen. Man sieht, dass „Substanz“ als allgemeinster Gattungsbegriff fungiert, der keine Bestimmung mehr über sich zulässt. Von dort klettert man am Begriffsbaum zu immer konkreteren Gattungen herab, die durch Angaben des spezifischen Artmerkmals jeweils in Arten aufgeteilt werden bis zu einem Begriff, der keinen konkreteren unter sich mehr zulässt.

Kehren wir zu unserer „Beispielskirsche“ zurück.

Jetzt ist es ein Leichtes, aus der Begriffspyramide den höheren Gattungsbegriff mit dem artbildenden Unterschied zu kombinieren und schon hat man die Definition: „Eine Kirsche ist ein kleines rotes Steinobst.“ Wichtig ist, immer nur nach dem nächsthöheren Gattungsbegriff zu suchen. Ein „Obstbaum“ ist also nicht etwa eine „stämmige Substanz“ (könnte auch ein Mann sein), sondern ein „Obstbaum“ ist eine „stämmige Fruchtpflanze“.

Diese Methode, aus den Begriffen unserer Sprache hierarchische Systeme zu bilden, aus denen man die Definitionen herauspflücken kann, ist bis heute unbestritten.

Ein zweites Beispiel aus der juristischen Welt:

Wir wollen die Begriffe „Verpflichtungsgeschäft“ und „Verfügungsgeschäft“ definieren. Ein dafür in Betracht kommender „Begriffsbaum“ könnte wie folgt gewachsen sein:

 Gewonnene Definition 1: Also ist ein „Vertrag“ (neuer Gattungsbegriff) ein mehrseitiges, aufgrund übereinstimmender Willenserklärungen (abgrenzendes Artmerkmal) zustande gekommenes Rechtsgeschäft (nächst-höhere Gattung). Verwendung eines Begriffs der nächsthöheren Gattung: Rechtsgeschäft. Abgrenzendes Artmerkmal: mehrseitiges Rechtsgeschäft aufgrund übereinstimmender Willenserklärungen.
 Gewonnene Definition 2: Also ist ein „Verpflichtungsgeschäft“ (neuer Gattungsbegriff) ein zu einem Tun oder Unterlassen verpflichtender (abgrenzendes Artmerkmal) Vertrag (nächsthöhere Gattung), z.B. § 433 BGB.
 Gewonnene Definition 3: Also ist ein „Verfügungsgeschäft“ (neuer Gattungsbegriff) ein eine Rechtsänderung unmittelbar begründender (abgrenzendes Artmerkmal) Vertrag (nächsthöhere Gattung), z.B. § 929 BGB.

Die Fähigkeit, auf Verlangen von jedem Begriff eine juristische Definition zu geben (z.B. „Vertrag“), erfordert weniger Scharfsinn als Gedächtnis und Übung.

Zur eigenen Definitionsgewinnung können Sie externe Speicher zu Rate ziehen wie Lexika, Duden, etymologische Wörterbücher, Internet (Wikipedia). Zur direkten Übernahme juristischer Definitionen dienen hervorragend die juristischen Kommentare, in welche die Rechtsprechung ihre ausgefeilten Definitionen ablegt.

Definieren ist eine schwierige juristische Kunst – und es ist leicht, dabei Fehler zu machen. – Hier einige Stolpersteine:

 Eine Definition soll begrenzen. Dabei ist es naheliegend zu testen, ob sie auch leistet, was sie verspricht. Darauf kann man die Probe machen, indem man etwas heraussucht, das eigentlich darunter fallen müsste, und zeigt, dass es nicht darunter fällt. Dann ist die Definition zu eng. „Fremd ist eine Sache, die nicht im Eigentum des Täters steht.“ Die Definition ist zu eng, da „herrenlose“ Sachen auch nicht im Eigentum des Täters stehen und dennoch kein taugliches Diebstahlsobjekt sein können. Oder die Definition ist zu weit: „Fremd ist eine Sache, die in jemandes Eigentum steht“. Die Definition ist unbrauchbar, da eine im Eigentum des Täters stehende Sache eben nicht „fremd“ ist.
 Eine Definition muss verknappen. „Fremd ist eine Sache, die nicht im Eigentum des Täters steht und nicht herrenlos ist“, ist zwar richtig, aber zu breit. „Fremd ist eine Sache, die im Eigentum eines Dritten steht“, sagt dasselbe und ist knapper, da sie den Fall der „Herrenlosigkeit“ ausschließt.
 Definitionen, die nur mitteilen, was etwas nicht ist, verfehlen ihr Ziel. „Beweglich sind alle Sachen, die nicht Grundstücke sind“. Diese Art von Definition klärt nicht auf, sondern verschleiert nur, dass sie nicht erklären kann, was beweglich heißt. „Fremd ist eine Sache, die nicht herrenlos ist.“ Doppelt unsinnig!
 Vermeiden Sie zirkelhafte Definitionen. Zirkelhaft ist eine Definition, wenn das, was definiert werden soll (Definiendum), in dem definierenden Wort (Definiens) wieder auftaucht, offen oder versteckt. „Beweglich ist eine Sache, wenn sie bewegt werden kann.“ „Beweglich ist eine Sache, wenn sie transportabel ist.“ (Transportabel ist nur ein Fremdwort für „beweglich“.) „Die Note ‚mangelhaft‘ ist eine mit Mängeln behaftete Leistung“.
 Die Definition darf nicht mit emphatischen Bezeichnungen, Beispielen oder Bildern umgangen werden. Legendär ist die Geschichte jenes Schülers, der eine Abiturklausur zum Thema „Was ist Mut?“ anzufertigen hatte und nach fünf Minuten dem Aufsichtsführenden ein fast leeres Blatt abgab, auf dem unten der Satz stand: „Das ist Mut.“ Das ist keine Definition, sondern der Versuch, eine Definition mit einem Beispiel zu umschiffen.
 Eine Definition gibt das Versprechen ab: „Diese Definition X bedeutet ab jetzt immer X für das Merkmal Y“. Sie, der Sie eine Definition einführen, verpflichten sich, Ihre Definition auch tatsächlich konsequent zu beachten. Eine Definition feierlich zu zelebrieren, um sie gleich mit Füßen zu treten, ist ein schwerer Fehler.
 Eine Definition muss Mehrdeutigkeit in Eindeutigkeit umwandeln. Bleibt trotz der Definition eine Mehrdeutigkeit übrig, ist die Definition juristisch untauglich. „Eine Sache ist ein Gegenstand“. Unbrauchbar, da unter „Gegenstand“ auch Forderungen und Rechte subsumierbar sind.

Gehen Sie mal raus mit Freund oder Freundin und versuchen Sie, alles zu definieren, was Ihnen unter die Augen kommt. Das kann richtig Spaß machen und schult immens Ihre juristische Definitionskunst. Es geht tatsächlich: Fast jeder Gegenstand kann einer Definition zugeführt werden. Und für uns Juristen gilt: Er muss (!!!) einer Definition zugeführt werden. Also auf zum fröhlichen Definieren!

Beitrag: 53 Die Willenserklärung: Wie der Wille zu Recht wird

Wir werden uns nunmehr mal mit der Frage befassen, wie denn ein solches Rechtsgeschäft eigentlich wirksam zustande kommt. Dabei wird das für alle Rechtsgeschäfte notwendige Grundgerüst erörtert. Es bestehen aber darüber hinaus in vielfacher Hinsicht zusätzliche Wirksamkeitserfordernisse, auf die die anschließenden Markierungen eingehen werden. Das Rechtsgeschäft stellt das bei weitem wichtigste Instrument zur Gestaltung der privatrechtlichen Beziehungen der Menschen untereinander dar. Von entsprechend übergeordneter Bedeutung ist dieser zentrale Begriff des Zivilrechtes für die juristische Wissenschaft, Praxis und Ausbildung.
Wie schon ausgeführt, ist das Rechtsgeschäft ein Rechtsinstitut, das eine Willenserklärung oder eine Mehrheit von Willenserklärungen, allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen enthält und an das die Rechtsordnung den Eintritt eines gewollten rechtlichen Erfolges knüpft. Diese Definition gilt für alle Arten von Rechtsgeschäften, also sowohl einseitige als auch mehrseitige, sowohl Verpflichtungs- als auch Verfügungsgeschäfte, sowohl kausale als auch abstrakte Rechtsgeschäfte.
Da jedes Rechtsgeschäft aus einer oder mehreren Willenserklärungen besteht, müssen wir uns vorab zwingend mit der Frage befassen, was denn Willenserklärungen sind und wie sie wirksam zustande kommen.
Bei der Willenserklärung handelt es sich bekanntlich um eine Willensäußerung, die auf die Herbeiführung eines bestimmten rechtlichen Erfolges gerichtet ist.

Sie werden sogleich die große Ähnlichkeit der beiden Definitionen von Rechtsgeschäft und Willenserklärung erkannt haben:
In beiden ist nämlich auf die Herbeiführung bzw. den Eintritt eines bestimmten rechtlichen Erfolges abgestellt. Beide Begriffe haben also mit einer Veränderung einer bestehenden Rechtslage zu tun.

Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Rechtsinstituten liegt nun in Folgendem: Während die Willenserklärung die rechtliche Veränderung nur bezweckt, tritt diese durch das Rechtsgeschäft unmittelbar schon ein.

Beispiel: Gibt Max ein Kaufangebot ab, so handelt es sich um eine Willenserklärung. Max äußert nämlich seinen Willen, einen bestimmten rechtlichen Erfolg – Abschluss eines Kaufvertrages – herbeizuführen: Er möchte eine bestimmte Sache zu einem bestimmten Preis kaufen.

Ein Rechtsgeschäft stellt dieses Angebot aber noch nicht dar, weil der gewünschte rechtliche Erfolg noch nicht eingetreten ist. Solange Moritz das Angebot nicht seinerseits angenommen hat, hat sich die Rechtslage nämlich noch nicht in dem gewünschten Sinne verändert, da der Erklärende Max noch nicht den Anspruch auf Übergabe und Übereignung der Kaufsache und damit die von ihm gewünschte Position eines Käufers aus § 433 Abs. 1 erlangt hat.

Bei den einseitigen Rechtsgeschäften kommt es allerdings auch – und sogar häufig – vor, dass eine Willenserklärung zugleich das (ganze) Rechtsgeschäft darstellt.
Ein Beispiel bildet die ordentliche Kündigung eines Dauerschuldverhältnisses (abstrakt: § 314, konkretisiert z.B. für das Arbeitsverhältnis in §§ 620, 626 Abs. 1, für Mietverträge in § 543 Abs. 1). Eine Kündigung enthält nicht nur den Willen des Kündigenden, dass etwa der Dienst- oder Arbeitsvertrag beendet sein solle, sondern der Dienstvertrag endet durch die wirksame Kündigung auch tatsächlich, und zwar ohne dass der Kündigungsempfänger dazu beitragen müsste oder dies verhindern könnte. Bitte machen Sie sich sorgfältig klar, warum dieses Beispiel beide Definitionen erfüllt.
Ein Gegenbeispiel ist die Eigentumsaufgabe (Dereliktion) des § 959. Dieses einseitige Verfügungs-Rechtsgeschäft erfordert neben der einseitigen Willenserklärung des Eigentumsverzichts („Ich will das Eigentum nicht mehr!“) auch noch den Realakt der Besitzaufgabe, um den Rechtserfolg herbeizuführen.

In Abgrenzung zu den einseitigen und zweiseitigen Rechtsgeschäften muss man einleitend hier noch spitzfindig darauf hinweisen, dass eine Willenserklärung aus ihrer Definition heraus nicht „einseitig“ oder „zweiseitig“ sein kann. Mit dem Begriff „zweiseitig“ meint man nämlich, dass an einem Rechtsinstitut mehrere Personen mit unterschiedlichen, und zwar gegenläufigen Positionen beteiligt sind, wie dies bei einem Rechtsgeschäft häufig der Fall ist (z.B. Verkäufer/Käufer; Vermieter/Mieter; Werkunternehmer/Besteller usw.). Zwei solche gegenläufigen Positionen können aber bei einer Willenserklärung denknotwendigerweise nicht vorliegen, handelt es sich doch um die Äußerung eines Willens, zur Herbeiführung eines bestimmten rechtlichen Erfolges. Denkbar ist allenfalls, dass mehrere Personen denselben Willen gleichzeitig (etwa schriftlich) äußern. Dies macht die Willenserklärung nach den obigen Erläuterungen des Begriffes aber nicht zu einer „zweiseitigen“.
Beispiel: Die Eheleute Müller erklären gegenüber ihrem Wohnungsvermieter in einem gemeinsamen Brief, den beide unterschreiben, die Kündigung des Mietvertrages: Sie geben (beide gemeinsam) eine Willenserklärung ab.

Gleichwohl liest man die Begriffe „einseitige“ oder gar „zweiseitige“ Willenserklärung nicht selten in Klausuren. Derartige Begriffsverwirrungen legen den – meist zutreffenden – Schluss nahe, dass der Verfasser die Materie nicht vollständig verstanden hat. Es ist zwar mühselig, aber gerade für den juristischen Anfänger sehr wesentlich, sich einer exakten Sprache und der zutreffenden juristischen Begriffe zu bedienen. Eine Denk- und Sprachdisziplin erleichtert das Verständnis der schwierigen juristischen Materie erheblich, weil sich nur so zügig ein systematisches juristisches Gedankengebäude, Denk- und Sprachformen und deren Inhalte über den zu erlernenden Stoff erschließen können, von denen aus dann weiteres Wissen assoziativ erarbeitet werden kann. (Vgl. „Juristische Entdeckungen – Bd. I – Der Weg in das juristische Studium“.)

Den kleinsten Baustein jedes Rechtsgeschäftes bildet also die Willenserklärung. Die auch grafisch soeben erläuterte Definition der Willenserklärung enthält zwei wesentliche Elemente:
● Der Erklärende muss zunächst den Willen bilden, einen bestimmten rechtlichen Erfolg herbeizuführen (Willensbildung).
● Sodann muss er diesen Willen auch äußern; der nicht erklärte Wille ist bedeutungslos (Willensäußerung).

Die Willensbildung
Welche Anforderungen an die Willensbildung des Erklärenden zu stellen sind, soll hier nur kurz gestreift werden.
● Der Erklärende muss zunächst einen sogenannten Handlungswillen haben.
Unterschreibt der Schwiegervater in Hypnose eine Bürgschaftserklärung für das Darlehen des Schwiegersohns (§§ 766, 765), oder zwingt die Krankenpflegerin Emma die gebrechliche pflegebedürftige Oma durch unwiderstehliche Gewalt, ein Testament zu ihren Gunsten zu schreiben (§ 2247), indem sie der Oma die Hand gewaltsam führt, so stellen die errichteten Urkunden nach außen hin Willenserklärungen dar. Die Erklärungen sind aber ohne den Willen der Personen (Schwiegervater und Oma) entstanden, da beide gar nicht gehandelt haben. Es fehlte ihnen der Handlungswille.
● Der Erklärende muss weiterhin ein sogenanntes Erklärungsbewusstsein haben.
Winkt in einer Versteigerung Oli seiner Freundin Sabine freundschaftlich zu und erhält er deshalb den Zuschlag vom Auktionator für die antike chinesische Vase im Wert von 10.000 €, so liegt ein Angebot oder eine Annahme eines Versteigerungsrechtsgeschäfts nicht vor. Oli fehlt das Bewusstsein, mit seinem Handzeichen etwas Rechtserhebliches zu tun und damit der Wille, eine Rechtsfolge auszulösen. Lädt Oli seine schöne Freundin Sabine zum Abendessen ein, besinnt sich aber kurz vorher auf die noch schönere Helena, so kann Sabine den Oli nicht auf Erfüllung oder Schadenersatz wegen Nichterfüllung verklagen. Oli hat bei diesem sogenannten „Gefälligkeitsverhältnis“ nicht den Willen, sich rechtlich gegenüber Sabine binden zu wollen. Ihm fehlt das (Willens-) Erklärungsbewusstsein.
● Der Erklärende muss schließlich einen sogenannten Geschäftswillen haben.
In einer Metzgerei erklärt Frau Schmitz: „Ich möchte zwei Kilogramm Schweinefilet kaufen“, sie meinte jedoch zwei Pfund Schweinefilet. Zwar wollte Frau Schmitz handeln, auch ist sie sich bewusst, dass sie etwas Rechtserhebliches erklärt, also Erklärungsbewusstsein bezüglich eines Kaufvertrages hat, ihr erklärter Wille (2 Kilo) stimmt jedoch mit ihrem wahren Willen (2 Pfund) nicht überein. Wille und Erklärung fallen im Hinblick auf das Geschäft „Schweinefiletkauf“ bzgl. der Menge auseinander. Man spricht dann im juristischen Sprachgebrauch von einem „Willensmangel“. Derartige Mängel im Geschäftswillen können durch Irrtum, Täuschung oder Drohung, bewusst oder unbewusst eintreten und gehören systematisch zum Gebiet der Anfechtung von Willenserklärungen. Hier nur soviel: Da Frau Schmitz sich bewusst war, rechtsgeschäftlich zu handeln, und da sie dies auch gewollt hat, und da letztlich der Metzger auf die Erklärung vertraut hat, führt der fehlende Geschäftswille im Interesse des Metzgers nicht dazu, dass überhaupt keine Willenserklärung vorliegt; die Willenserklärung liegt vor. Sie ist allerdings durch einen Irrtum willensmängelbehaftet und berechtigt die mit fehlerhaftem Geschäftswillen handelnde Frau Schmitz lediglich zur Anfechtung (§§ 142, 119 Abs. 1). Hierzu kommen wir später!
Für die weitere Erörterung wollen wir – bis auf Widerruf – jeweils davon ausgehen, dass der Betreffende, ohne einem derartigen Willensmangel zu unterliegen, mit Handlungswillen und Erklärungsbewusstsein gerade die Rechtsfolge auch wirklich herbeiführen will, die er durch die Willensäußerung zum Ausdruck bringt.

Die Willensäußerung
Unter der Willensäußerung versteht man die sich aus der Definition der Willenserklärung ergebende Notwendigkeit, dass der Betreffende seinen rechtsgeschäftlichen Willen auch erklärt, also „äußert“, sich seines Willens „entäußert“.

Beispiel: Herr Müller hat ein schriftliches Angebot des Wohnungseigentümers Schmidt aus Hamburg erhalten. Um dieses Angebot anzunehmen, also eine Willenserklärung mit dem Inhalt einer Annahme abzugeben, genügt es nun nicht, dass Herr Müller denkt: „Die Wohnung ist für meine Familie gut geeignet, die möchte ich haben.“ Er muss diesen Gedanken vielmehr auch nach außen kundtun, ihn manifestieren, d.h. deutlich machen. Die Anforderungen an diese (Ent-)Äußerung des Willens hängen noch davon ab, ob ein Adressat vorhanden ist oder nicht; dazu gleich mehr.

Die äußere Form der Willenserklärung
Zunächst stellt sich die Frage, in welcher Form der Erklärende seinen Willen äußern muss. Unter der Form versteht der Jurist das äußere Erscheinungsbild einer Erklärung. Neben der am häufigsten verwendeten Form, nämlich der mündlichen Erklärung, gibt es z.B. noch die schriftliche Form oder die notarielle Beurkundung. Mit diesen und anderen Formen befassen wir uns aber erst später, wenn wir den Vertrag „fertig“ haben. Für das Verständnis der Willenserklärung muss aber hinsichtlich der Formfragen bereits hier auf Folgendes hingewiesen werden:
● Anstatt seinen Willen ausdrücklich zu äußern, genügt es auch, wenn der Erklärende durch eine Geste seinen Willen zum Ausdruck bringt. Nickt z.B. in einer Gaststätte der Gast auf die Frage der Kellnerin, ob er noch ein Bier möchte, mit dem Kopf, so hat er durch das Nicken eine Willenserklärung abgegeben, nämlich den Willen geäußert, ein Glas Bier kaufen zu wollen.
● Es braucht sich aber noch nicht einmal um eine Geste, wie das Nicken, zu handeln, die ausschließlich gerade nur zu dem Zweck vorgenommen wird, die ausdrückliche Willenserklärung zu ersetzen. Vielmehr reicht auch jedes sonstige Verhalten aus, das dem Beobachter den Willen des Erklärenden vermittelt, sogenanntes „schlüssiges“ oder auch „konkludentes“ Verhalten (lat.: conclusio, d.h. Schluss, Folgerung).
Der Gast schiebt dem Wirt auf dessen entsprechende Frage wortlos sein leeres Bierglas hin.
Der Dozent nimmt sich einer vereinbarten Gepflogenheit folgend in der Pause wortlos in der Kantine eine dort stehende Tasse Kaffee weg.
Der Passant legt am Kiosk 5 € auf die Ablage und zeigt auf den „Spiegel“.
Der Verkäufer nimmt das Geld an sich und gibt dem Kunden die Zeitung und das Wechselgeld.
Dies hat seinen Sinn darin, dass auch ein derartiges konkludentes Verhalten den Willen des Erklärenden eindeutig zum Ausdruck bringt, er ihn also „äußert“. Es würde daher einen unnötigen Formalismus darstellen, von jedem Erklärenden die Abgabe seiner Willenserklärung immer in (zumindest) mündlicher Form zu verlangen. Dies wäre angesichts der Vielzahl täglich abgeschlossener Rechtsgeschäfte sowie angesichts der juristischen Laienhaftigkeit der meisten Bürger auch kaum praktikabel.

Besonderer Erörterung bedarf in diesem Zusammenhang noch die Problematik des Schweigens im Rechtsverkehr. Dies wird am ehesten im Rahmen von vertraglichen Annahmeerklärungen bedeutsam.

Beispiel: Versandhändler V verschickt an einen wahllos aus dem Internet ausgewählten Kundenkreis eine „fast geschenkte“ Kaffeemaschine mit dem Zusatz: „Der Kaufvertrag kommt zustande, wenn Sie die Maschine nicht binnen 2 Wochen zurücksenden.“

Das Schweigen stellt grundsätzlich keine Willenserklärung dar. Wer schweigt, erklärt nichts, gibt also auch keine Willenserklärung ab. Die Erklärung ist das Gegenteil des Schweigens; es ist keine Äußerung. Insofern können wir als Grundregel feststellen: Wer ein Vertragsangebot erhält und schweigt, gibt keine Annahmeerklärung ab. Der Vertrag kommt also nicht zustande. Im vorstehenden Beispiel kommt daher ein Kaufvertrag auch dann nicht zustande, wenn der Empfänger der Kaffeemaschine diese nach 2 Wochen nicht zurücksendet. Dementsprechend braucht er sie auch nicht zu bezahlen.
Etwas anderes gilt aber dann, wenn die Parteien Entsprechendes vereinbart haben. Verabredet ein Kunde mit seinem Buchhändler, dass dieser ihm regelmäßig alle Neuerscheinungen zum Thema „Die Vollwerternährung“ zuschickt und er zur Zahlung nur verpflichtet ist, wenn er das Buch nicht binnen 2 Wochen zurückschickt, so ist in dem Schweigen des Kunden die Abgabe der folgenden Willenserklärung zu sehen: „Ich nehme das Angebot zum Abschluss eines Kaufvertrages über das Buch an.“
Zwei weitere Ausnahmen finden sich in der Regelung des § 362 Abs. 1 HGB und des § 416 BGB. Der Gesetzgeber stellt hier auf Besonderheiten des Handelsverkehrs bzw. des Hypothekenrechtes ab und fingiert unter bestimmten engen Voraussetzungen die Annahmeerklärung des Kaufmanns bzw. eine Genehmigung durch Schweigen. Umgekehrt gibt es auch den Fall, dass ein Schweigen als Ablehnung gilt, so in § 108 Abs. 2 a. E., worauf wir bald zurückkommen werden.

Das Wirksamwerden der Willenserklärung (Zugang)
Nunmehr stellt sich die Frage, wann eine Willenserklärung, wie z.B. das Angebot zum Abschluss eines Kaufvertrages oder die Kündigung des Arbeitgebers, die mit ihr bezweckte Rechtsfolge denn nun eigentlich herbeiführt, wann sie also rechtlich existent, d.h. auf Juristendeutsch „wirksam“ wird. Die entscheidende Vorschrift, die darüber (leider nur sehr lückenhaft) Auskunft gibt, ist § 130 Abs. 1 S. 1. Lesen Sie sie gewissenhaft durch.
Folgender Inhalt lässt sich ihr entlocken:
● § 130 Abs. 1 S. 1 weist zwei Begriffe auf, nämlich „Abgabe“ und „Zugang“.
● § 130 Abs. 1 S. 1 regelt nur den Fall, dass die Willenserklärung unter Abwesenden („… in dessen Abwesenheit …“) abgegeben wird; für ein Wirksamwerden durch Zugang unter Anwesenden enthält sie keine Regelung.
● § 130 Abs. 1 S. 1 gilt nur für empfangsbedürftige Willenserklärungen („…, die einem anderen gegenüber abzugeben ist, …“), also für Willenserklärungen mit einem Erklärungsempfänger; für nichtempfangsbedürftige Willenserklärungen, z.B. § 1937 (Testament), also Willenserklärungen ohne Erklärungsempfänger, schweigt die Vorschrift.
● § 130 Abs. 1 S. 1 trifft keine Aussage über unterschiedliche Wirksamkeitsvoraussetzungen bei verkörperten Willenserklärungen (der Erklärungsinhalt ist auf Dauer fixiert, d.h. schriftlich) und nicht verkörperten Willenserklärungen (der Erklärungsinhalt ist nicht fixiert, d.h. Wort, Handzeichen, Nicken).
● § 130 Abs. 1 S. 1 lässt die entscheidende Frage, was denn nun eine „Abgabe“ und was ein „Zugang“ sein sollen, völlig ungeklärt.
Der Gesetzgeber hat wieder einmal, wie man den fünf Punkten unschwer entnehmen kann, den Eintritt einer Willenserklärung in ihre juristische Welt mehr als geheimnisvoll normiert.

Vielleicht hilft zunächst wieder einmal ein Baumdiagramm als Überblick weiter.

Bei der Abgabe einer Willenserklärung wollen wir uns kurz fassen. Eine Willenserklärung ist abgegeben, wenn der rechtsgeschäftliche Wille so geäußert ist, dass an der Ernsthaftigkeit und Endgültigkeit kein Zweifel besteht und die Erklärung mit Wille des Erklärenden in den Verkehr gebracht worden ist.
Beim Wirksamwerden einer Willenserklärung wird es schwieriger. Sie sehen sofort auf einen Blick, dass die Anforderungen an das Wirksamwerden einer Willenserklärung von drei sehr wesentlichen Unterscheidungen abhängig sind, nämlich davon,
ob die Willenserklärung erstens empfangsbedürftig oder ausnahmsweise nicht empfangsbedürftig ist,
zweitens verkörpert, also schriftlich fixiert oder nicht verkörpert ist und
drittens, ob sie gegenüber Anwesenden oder Abwesenden erfolgt.

● Die empfangsbedürftige Willenserklärung
Die wichtigsten Willenserklärungen sind empfangsbedürftig. Das bedeutet, dass sie nicht schon mit der Abgabe, sondern erst dann wirksam werden, wenn der andere Teil sie empfängt. So sind die beiden „Renner“ unter den Willenserklärungen, nämlich die den Vertrag bildenden Bestandteile Angebot und Annahme, grundsätzlich empfangsbedürftige Willenserklärungen. Dies ergibt sich für das Angebot ausdrücklich aus § 145 („einem anderen“) und für die Annahme aus § 146 („diesem gegenüber“).
Der Grund für dieses Erfordernis der „Empfängnis“ liegt in der Natur der Sache:
Da die Willenserklärung als wesentlicher Bestandteil eines Rechtsgeschäftes regelmäßig eine bestimmte andere Person (wie z.B. eben den Vertragspartner) betrifft, soll sie erst wirksam werden, wenn dieser als Empfänger der gesendeten Willenserklärung von ihr Kenntnis nehmen kann.
Das gilt auch dann, wenn die Willenserklärung nicht Bestandteil eines zweiseitigen, vielmehr Bestandteil eines einseitigen empfangsbedürftigen Rechtsgeschäftes ist. Die Kündigung eines Mietvertrages durch den Vermieter oder die Kündigung eines Arbeitsvertrages durch den Arbeitgeber wird erst mit dem jeweiligen Empfang der Kündigungserklärung durch den Mieter oder Arbeitnehmer wirksam.
Die empfangsbedürftige Willenserklärung muss nun gerade von dem anderen Teil empfangen worden sein. Damit ist derjenige gemeint, an den sich die Willenserklärung richtet, der sogenannte richtige Adressat. Nicht genügend wäre es, wenn der Erklärende die Willenserklärung lediglich anderen unbeteiligten Personen mitteilte. Der Mietvertrag kommt nicht dadurch zustande, dass Herr Müller seiner Frau gegenüber erklärt, er akzeptiere das Angebot des Vermieters. Frau Müller mag zwar von der Willenserklärung betroffen sein, diese richtet sich jedoch als Vertragserklärung an den Vermieter und wird damit erst mit Empfang durch diesen wirksam. Die Kündigung eines Arbeitsvertrages ist nicht schon dann wirksam, wenn der Chef zum Abteilungsleiter Müller sagt: „Ich feuere den Schmitz!“

● Die nichtempfangsbedürftige Willenserklärung
In seltenen Fällen ist die Willenserklärung nicht empfangsbedürftig. Dabei handelt es sich in aller Regel um Willenserklärungen, die Bestandteil einseitiger Rechtsgeschäfte sind und bei denen eine Bindungswirkung für den Erklärenden bestehen soll, auch ohne dass seine Erklärung einer bestimmten Person zugeht. Beispiele sind etwa das Testament (§ 1937) und die Auslobung (§ 657). Solche Willenserklärungen werden schon dann wirksam, wenn der Erklärende sie – in aller Regel schriftlich – so artikuliert hat, dass ein objektiver Beobachter sie als abgegeben ansieht. Der Erblasser legt z.B. das unterschriebene Testament in seine Schublade oder der Auslobende setzt die Belohnung durch Bekanntmachung in der Presse, auf Litfasssäulen oder durch Postwurfsendungen aus.

● Die verkörperte und die nichtverkörperte Willenserklärung
Verkörpert ist eine Willenserklärung, wenn sie auf einem greifbaren Material fixiert, also niedergelegt ist. Die Willenserklärung ist dann durch die Fixierung „verkörpert“. Die nicht verkörperte Willenserklärung ist demgegenüber der gesprochene Satz oder die konkludente Handlung (Nicken, Zwinkern oder andere Arten des nonverbalen Zeichengebens).

● Die Willenserklärung gegenüber Abwesenden
Nunmehr stoßen wir auf eine weitere wichtige Unterscheidung, nämlich die Frage, ob die empfangsbedürftige Willenserklärung gegenüber einem „anwesenden“ oder einem „abwesenden“ Empfänger abgegeben wird. Dabei ist unter einem „anwesenden“ derjenige Empfänger zu verstehen, der sich unmittelbar bei dem Erklärenden am gleichen Ort zur gleichen Zeit, also in dessen Hör- oder Sichtweite, befindet. Demgegenüber ist ein abwesender Empfänger derjenige, der sich nicht am gleichen Ort zur gleichen Zeit befindet, zu dem also kein unmittelbarer Kontakt besteht, sondern erst zusätzlich hergestellt werden muss, z.B. durch Absenden eines Briefes, eines Faxschreibens, einer E-Mail oder Entsendung eines Boten.
Juristisch am interessantesten ist dabei das Wirksamwerden der Willenserklärung gegenüber einem Abwesenden, mit dem wir uns daher zunächst befassen wollen.
Der Gesetzgeber hat dieses, und nur dieses (!) Problem in § 130 Abs. 1 S. 1 geregelt. Nach dieser Vorschrift wird die einem Abwesenden gegenüber abzugebende – also „empfangsbedürftige“ – Willenserklärung wirksam, wenn sie ihm zugeht. – Was heißt aber „zugeht“? Der Begriff des Zugangs ist von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft definiert worden. Diese Definition ist wichtig; sie lautet:
Eine Willenserklärung ist zugegangen, wenn sie so in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, dass unter Zugrundelegung normaler Umstände mit der Möglichkeit ihrer Kenntnisnahme gerechnet werden kann.
Es ist also zunächst einmal erforderlich, dass die Willenserklärung in den sogenannten Machtbereich des Empfängers gelangt. Wegen dieses schönen Wortes „Machtbereich“ nennt man diese Konstruktion auch „Machtbereichstheorie“. Der Brief wird also z.B. in den Briefkasten eingeworfen; der Bote erreicht das Haus des Empfängers; der Anrufbeantworter des Empfängers zeichnet die gesprochene Erklärung auf; E-Mails gehen im Empfangsbriefkasten des Providers ein; das Kündigungsschreiben wird unter der Tür durchgeschoben.
Das Gelangen in den Herrschaftsbereich des Empfängers muss weiterhin so geschehen, dass der Empfänger von der Willenserklärung Kenntnis nehmen kann, also die „Möglichkeit“ der Kenntnisnahme hat.
Es mag zunächst überraschen, dass die Definition nicht die tatsächliche Kenntnisnahme durch den Empfänger als Zugangsvoraussetzung aufstellt, weil doch nur dadurch gewährleistet ist, dass der Empfänger von der Willenserklärung wirklich Kenntnis genommen hat. Der Grund hierfür wird aber ohne weiteres ersichtlich, wenn Sie sich folgenden Fall klarmachen:

Beispiel: Vermieter V möchte seinem Mieter M kündigen. Laut Mietvertrag ist eine Kündigung des Mietvertrages mit einer Frist von einem Monat zum Quartalsende möglich. Am Abend des 30.11. – etwa gegen 19.00 Uhr – wirft V seinen Kündigungsbrief in den Briefkasten des M. Der Briefkasten wird wie üblich am nächsten Morgen geleert. Da M eine Geschäftsreise unternehmen muss, legt er die Post ungeöffnet auf seinen Schreibtisch. Nach seiner Rückkehr am 3.12. kommt er erst dazu, den Brief des V zu lesen. Ist die Kündigung zum 31.12. oder erst zum 31.3. des nächsten Jahres wirksam?

Gem. § 130 Abs. 1 S. 1 wird eine Willenserklärung unter Abwesenden wirksam mit Zugang. Die Kündigungserklärung des V müsste dem M also spätestens am 30.11. zugegangen sein, um zum 31.12. wirksam zu werden. Es kommt mithin darauf an, welcher Zeitpunkt als Zugang der Willenserklärung anzusehen ist:
der Zeitpunkt, zu dem M das Schreiben tatsächlich gelesen hat, also der 3.12.,
der Zeitpunkt, zu dem M den Brief dem Briefkasten entnommen und ihn auf seinen Schreibtisch gelegt hat, also der 1.12.,
der Zeitpunkt, zu dem V den Brief in den Briefkasten des M geworfen hat, also der 30.11. um 19.00 Uhr.
Das Gesetz schweigt! Also ist das Tatbestandsmerkmal „Zugang“ durch Auslegung zu ermitteln, hier mit der teleologischen Auslegungsmethode (vgl. „Juristische Entdeckungen – Bd. I“). Was würde passieren, wenn man für den „Zugang“ die tatsächliche Kenntnisnahme voraussetzen würde? Der Empfänger hätte es in der Hand, durch bloße Nichtkenntnisnahme (Liegenlassen, Zerreißen) das Wirksamwerden der Willenserklärung zu verhindern. Und was würde passieren, wenn man für den „Zugang“ nur das tatsächliche Ankommen der Willenserklärung im Machtbereich des Empfängers ausreichen lassen würde? Dann hätte es der Erklärende in der Hand, dem Empfänger eine Willenserklärung wirksam zugehen zu lassen, ohne dass dieser unter normalen Umständen davon Kenntnis nehmen kann. Am 30.11. gegen 19.00 Uhr leert ein normaler Mensch unter normalen Umständen eben keinen Briefkasten!!
Mit der „Machtbereichstheorie“ werden nun die Interessen des Empfängers und des Erklärenden angemessen gewichtet, abgewogen und gleichermaßen berücksichtigt, so dass jeder von beiden die Risiken innerhalb seiner Wirkungssphäre zu verantworten hat. Wann jeweils diese Definition des Zugangs erfüllt ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab.

Beispiele: Wird der eine Willenserklärung enthaltende Brief von dem Postboten in den Briefkasten des Empfängers eingeworfen, so ist sie dem Empfänger zugegangen, weil sie in seinen Machtbereich gelangt ist und er Gelegenheit hat, von dem Brief Kenntnis zu nehmen. Wird ein Brief von einem Boten der Ehefrau des Empfängers mit der Bitte übermittelt, diesen am Abend sofort dem Empfänger vorzulegen, so ist er mit der Übergabe an die Ehefrau zugegangen. Anders ist es, wenn der Bote den Brief im Laufe des Vormittags dem 5-jährigen Sohn des Empfängers mit der Bitte übergibt, ihn „abends dem Papa“ zu geben, weil bei einem 5-Jährigen nicht mit der zuverlässigen Befolgung dieser Bitte gerechnet werden kann. Wirft ein Vermieter abends gegen 22 Uhr die schriftliche Kündigung in den Briefkasten des Mieters, so geht diese erst am nächsten Tage zu, weil vorher unter normalen Umständen nicht damit gerechnet werden kann, dass der Mieter noch in seinen Briefkasten schaut.

Die Willenserklärung gegenüber Anwesenden
Wann eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die gegenüber einem Anwesenden abzugeben ist, wirksam wird, ist in § 130 Abs. 1 S. 1 nicht direkt geregelt, aber doch dem im Gesetz geregelten Fall des Zugangs unter Abwesenden sehr ähnlich. Und das ist ein typischer Anwendungsfall für eine Gesetzesanalogie: Also somit gem. § 130 Abs. 1 S. 1 analog auch mit Hilfe der „Machtbereichstheorie“. Man muss dabei allerdings unterscheiden zwischen dem Zugang einer verkörperten und dem Zugang einer nicht verkörperten Willenserklärung.
Die verkörperte Willenserklärung wird unter Anwesenden mit ihrer Übergabe an den Empfänger wirksam, also mit Besitzübergang gem. § 854. Von diesem Zeitpunkt an ist die Willenserklärung im „Machtbereich“ des Empfängers und er hat die Möglichkeit der Kenntnisnahme. Weigert sich der Empfänger eines Kündigungsschreibens unberechtigterweise, die Erklärung entgegenzunehmen, so ist sie trotzdem wirksam geworden – der Empfänger könnte sonst das Wirksamwerden von Willenserklärungen nach Belieben verhindern (Gedanke aus § 242). Er hatte die Möglichkeit der Kenntnisnahme. Punktum!
Die nicht verkörperte Willenserklärung wird wirksam mit der Möglichkeit der Wahrnehmung durch den Empfänger mit dem Ohr. Das gilt auch dann, wenn dieser die Willenserklärung falsch aufgenommen, sich also z.B. verhört hat. Die Willenserklärung wird mit dem Inhalt wirksam, den ein verständiger Hörer, der sich nicht irrt, ihr beimessen musste. Das ist in aller Regel der Inhalt, den der Erklärende ihr gegeben hat. Wenn im Laden der Verkäufer den Preis von „17,40 €“ nennt, der Kunde „14,70 €“ versteht, dann lautet das Angebot des Verkäufers trotzdem auf „17,40 €“. Akzeptiert jetzt der Kunde das Angebot – z.B. durch Einpacken der Ware (schlüssiges Handeln) –, so muss er 17,40 € bezahlen, weil dann zu diesem Preis der Kaufvertrag zustande gekommen ist. Allerdings kann sich der Kunde von diesem Vertrag wieder lösen, weil er sich über die Höhe des Kaufpreises geirrt hat (Probleme der Anfechtung kommen später!).

Die durch eine technische Einrichtung von Person zu Person übermittelte Willenserklärung
Gibt jemand am Telefon oder in einer Videokonferenz oder im Chat eine Willenserklärung ab, so handelt es sich einerseits um eine Willenserklärung unter Abwesenden, weil sich Erklärender und Empfänger nicht zur gleichen Zeit am selben Ort befinden.
Da andererseits die Telefonleitung bzw. die technische Einrichtung die notwendige Verbindung für den Austausch mündlicher Erklärungen herstellt, ist die Situation für die hier interessierende Frage mit derjenigen gleichzusetzen, in der der Empfänger bei dem Erklärenden anwesend ist. Wie aus § 147 Abs. 1 S. 2 entnommen werden kann, gelten für die mittels technischer Einrichtungen abgegebenen Willenserklärungen die Grundsätze über das Wirksamwerden einer unverkörperten Willenserklärung gegenüber einem Anwesenden.
Mitteilungen über Fernschreiber, Fax oder E-Mails sind dagegen Erklärungen unter Abwesenden und gehen zu mit einem wirksamen Ausdruck beim Empfänger bzw. beim Erreichen des Providers.

Beitrag: 54 Die Willensmängel – Wenn Wille und Erklärung auseinanderfallen

Jedes Rechtsgeschäft, insbesondere also jeder Vertrag, besteht zumindest aus einer oder mehreren Willenserklärungen.

Dabei spiegelt im Normalfall die abgegebene Willenserklärung genau den tatsächlichen Willen des Erklärenden wider. Dies ist aber nicht selbstverständlich, vielmehr kann die Willenserklärung sog. Willensmängel aufweisen.
Von einem Willensmangel spricht man ganz allgemein dann, wenn der Wille des Erklärenden nicht mit dem objektiven Inhalt seiner Erklärung übereinstimmt. Der Verkäufer nennt z.B. für seine Ware versehentlich einen falschen Preis. Hier fallen Wille und Erklärung auseinander – ein Willensmangel.
Um die sehr verschiedenen Fälle möglicher Willensmängel erfassen zu können, müssen wir uns zunächst klar machen, welche Schritte auf Seiten des Erklärenden im Einzelnen erfolgen müssen, damit eine Willenserklärung zustande kommt. Die Willenserklärung hat einen langen und beschwerlichen Weg hinter sich, ehe sie ihr Ziel – den Rechtserfolg herbeizuführen – findet.

Beispiel: Student R will an der Hochschule in Köln Jura studieren. Weil dort die Vorlesungen schon sehr früh beginnen und weil sein alter Wecker unzuverlässig ist, schließlich auch weil er schon morgens gerne Hardrock-Musik hört, entschließt sich R, sich einen Radiowecker im Geschäft des Z zu kaufen.

Zerlegen wir die Genealogie der Willenserklärung in ihre Entstehungsphasen:
Zunächst entsteht bei dem (später) Erklärenden aus zumeist mehreren Motiven (Beweggründen) die Absicht, eine bestimmte Rechtsfolge herbeizuführen. Wir bezeichnen dies als die Phase der Willensbildung.
„Früher Vorlesungsbeginn; alter Wecker unzuverlässig; Hardrock macht munter; …“
Danach erfolgt die ganz konkrete Entschlussfassung als Produkt des Willensbildungsprozesses:
„Ich will mir einen Funk-Wecker der Marke X zum Preise Y bei Händler Z kaufen.“

Sodann muss die zur Erreichung der erstrebten Rechtsfolge notwendige Erklärung abgegeben werden, wodurch die Willenserklärung zustande kommt. Es erfolgt die Umsetzung des inneren, konkreten Willens (Geschäftswille) nach außen.
R erklärt im Geschäft:
„Ich möchte diesen Wecker kaufen“ und zeigt auf ein als Einladung zur Abgabe von Angeboten harrendes Ausstellungsstück.
Schließlich muss diese empfangsbedürftige Willenserklärung noch wirksam werden, also rechtlich existent, meist durch Zugang gem. § 130 Abs. 1.
Z muss das Angebot also wahrgenommen haben.

Auf dieser Strecke vom Motiv bis zum Zugang kann nun alles gut gehen: Motiv und Wille und Erklärung decken sich. Wir sprechen in dieser Konstellation von einer fehlerfreien oder mangelfreien Willenserklärung.
Auf dieser Strecke kann aber auch einiges schief gehen: Motiv und Wille und Erklärung decken sich nicht; sie fallen auseinander.

 Fehler bei der Willensbildung
So kann es sein, dass die Beweggründe (Motive), auf die der Erklärende sich stützt, in Wahrheit so wie von ihm angenommen gar nicht zutreffen, dass also schon bei der Willensbildung ein Willensmangel auftritt.
In dem dargestellten Beispiel kann sich etwa später herausstellen, dass R doch nicht zur Hochschule Köln geht, dass seine Freundin schon einen Radiowecker für ihn als Geschenk zum bevorstehenden Geburtstag gekauft hat, dass der alte Wecker mit neuen Batterien doch noch einwandfrei funktioniert.

 Fehler bei der Erklärung
In den weiteren dargestellten Phasen – nämlich bei der Erklärung des Geschäftswillens – sind drei völlig unterschiedliche Arten von Willensmängeln denkbar:
So kann zum einen die Abweichung der Erklärung von dem wahren Willen des Erklärenden unbewusst erfolgen, nämlich u.a. dann, wenn der Erklärende die Willenserklärung so, wie er sie tatsächlich abgegeben hat, gar nicht abgeben wollte. R weiß gar nicht, dass er etwas erklärt, das er nicht erklären will. Wille und Erklärung fallen unbewusst auseinander.
R möchte einen gelben Wecker kaufen, er zeigt aber aus Versehen auf einen roten.
Zu dieser Fallgruppe gehören der Inhaltsirrtum und der Erklärungsirrtum. Beide Fälle werden wir unten näher erläutern anhand des § 119 Abs. 1.
Möglich ist aber auch, dass der Erklärende bewusst mit seiner Erklärung von seinem Willen abweicht, also genau weiß, was er sagt, die Rechtsfolge, die hieran geknüpft ist, tatsächlich aber gar nicht erreichen will. R weiß, dass er etwas erklärt, das er nicht erklären will.
Um seinen großen Durst zum Ausdruck zu bringen, bestellt der erschöpfte Radfahrer R in einer Gartenwirtschaft scherzhaft „1 Fass Bier“.
Hier liegt kein Irrtum des Radlers R über den Inhalt seiner Erklärung vor, weil er tatsächlich die Bestellung von 1 Fass Bier zum Ausdruck bringen will. Der Willensmangel liegt vielmehr darin, dass er zwar das Fass „bestellen“, es aber gleichwohl nicht erhalten will. Wille und Erklärung fallen bewusst auseinander.
Ein aufgetretener Willensmangel kann also dem Erklärenden bewusst sein oder, was häufiger vorliegt, ihm unbewusst bleiben.
Schließlich können Willensmängel auf unrechtmäßige Eingriffe dritter Personen in die rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit zurückzuführen sein.
Der Autohändler täuscht R über die Unfallfreiheit des gekauften „Mondeo“. Der Käufer K zwingt den Verkäufer V durch Androhung von Schlägen, den Preis des „Mondeo“ um 50 % zu reduzieren.
Dies sind die Fälle der arglistigen Täuschung und der rechtswidrigen Drohung.

Also: Die Verfasser des BGB hatten Regelungen für vier Fallgruppen von Willensmängeln zu treffen:
1. Motivirrtum
2. Bewusstes Auseinanderfallen von Wille und Erklärung
3. Unbewusstes Auseinanderfallen von Wille und Erklärung
4. Rechtswidrige Eingriffe Dritter in die Willensfreiheit

Wie behandelt nun das BGB diese Fälle? Leider recht unterschiedlich! – Mal sind die Willenserklärungen wirksam, mal unwirksam und mal wirksam, aber „anfechtbar“. Ein kunterbuntes Allerlei! – Wir schauen uns mal ganz kurz um.

Zu 1.: Der Motivirrtum
Den schon bei der Willensbildung entstandenen Willensmangel nennt man Motivirrtum.
Diesen Motivirrtum schmeißen wir sofort aus unseren weiteren Überlegungen heraus! Er ist grundsätzlich irrelevant! Der Rechtsverkehr muss vor solchen Irrtümern im Vorfeld – aus der Welt der Beweggründe – geschützt werden. Wo käme der Geschäftsverkehr hin, wenn sich jemand von seiner Erklärung lösen könnte, nur weil seine Vorstellungen nicht in Erfüllung gegangen sind.

Zu 2.: Das bewusste Auseinanderfallen von Wille und Erklärung

Das Scheingeschäft

Beispiel: Briefmarkensammler V ist im Besitz eines seltenen Fehldruckes des Olympia-Blockes aus dem Jahre 1972, den sein Vereinskollege K unbedingt von ihm erwerben will. Um das ständige Drängen des K zu beenden, vereinbart V zum Schein mit dem in Wirklichkeit nicht an den Marken interessierten Dritt, dass dieser den Block für 1.000 € kaufe, und zeigt dem K anschließend den schriftlichen Vertrag mit Dritt. – Kann Dritt – jetzt anderen Sinnes geworden – aufgrund des Vertrages die Übereignung der Briefmarken von V gem. § 433 Abs. 1 verlangen?

Das Scheingeschäft zeichnet sich dadurch aus, dass eine empfangsbedürftige Willenserklärung im Einverständnis mit dem Geschäftspartner nur zum Schein abgegeben wird. Das Gesetz ordnet hierzu in § 117 Abs. 1 die – naheliegende – Rechtsfolge an, dass eine solche Willenserklärung nichtig sei. Warum soll das Gesetz Vertragsparteien Rechtsfolgen aufzwingen, die sie übereinstimmend nicht gewollt haben?
Im Beispielsfall liegen die Voraussetzungen des Scheingeschäftes vor: Das Angebot des V an den Dritt ist – wie alle Vertragsangebote – eine empfangsbedürftige Willenserklärung. Sie ist nur zum Schein erfolgt, nämlich um dem K den Eindruck vermitteln zu können, V sei zumindest vertraglich gebunden oder sogar schon nicht mehr Eigentümer der Briefmarken und könne sie deswegen, auch wenn er es wolle, dem K nicht mehr verkaufen. Hiermit war der Erklärungsempfänger Dritt auch einverstanden.
Dass er inzwischen doch die Marken erwerben will, führt nicht zu einem anderen Ergebnis, weil es allein auf das Einverständnis des Dritt im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Erklärung ankommt. Das Angebot ist aber spätestens mit Zugang bei Dritt wirksam geworden. Es war mithin gem. § 117 Abs. 1 nichtig, weswegen ein Kaufvertrag nicht zustande gekommen ist.
Dritt kann demnach nicht die Lieferung der Marken aus § 433 Abs. 1 verlangen.

Häufig werden Scheingeschäfte nur abgeschlossen, um ein anderes Rechtsgeschäft, das in Wahrheit gewollt ist, zu verdecken. Hierzu ordnet § 117 Abs. 2 an, dass dann „die für das verdeckte Rechtsgeschäft geltenden Vorschriften Anwendung finden“. Das soll heißen, dass das verdeckte „dissimulierte“ Geschäft nicht wegen seiner Verbindung mit dem unwirksamen „simulierten“ Scheingeschäft auf jeden Fall auch unwirksam ist. Vielmehr ist das verheimlichte Rechtsgeschäft wirksam, wenn
– unabhängig von dem vorgetäuschten Scheingeschäft – die für die Wirksamkeit des verheimlichten Rechtsgeschäftes erforderlichen Voraussetzungen vorliegen.

Dies soll anhand einer „klassischen“ Fallkonstellation erläutert werden, die in verschiedenen Variationen in Ausbildung und Praxis eine große Rolle spielt.
Beispiel: A kommt mit B überein, dessen Grundstück entsprechend seinem Wert für 100.000 € zu kaufen. Um die Gebühren für die notarielle Beurkundung (§ 311 b Abs. 1 S. 1), die Gerichtsgebühren für die Eintragung im Grundbuch (§ 873 Abs. 1) sowie die Grunderwerbssteuer, deren Höhe sich wie die vorerwähnten Gebühren nach dem Wert des Grundstückes richtet, teilweise zu sparen, lassen sie einen Kaufpreis von nur 75.000 € notariell beurkunden, um zu erreichen, dass dieser Betrag den Wertberechnungen zugrunde gelegt wird.
Kann A anschließend die Übereignung des Grundstückes von B verlangen?

A kann gem. § 433 Abs. 1 die Übereignung (Auflassung) verlangen, wenn ein Kaufvertrag mit B wirksam zustande gekommen ist.
Es kommt zunächst ein Vertrag zum Kaufpreis von 75.000 € in Betracht. Über diese Summe liegen zwar zwei wirksame und sich deckende und gem. § 311 b Abs. 1 S. 1 formwirksam durch den Notar beurkundete Willenserklärungen vor. Dennoch ist ein Vertrag mit dem Kaufpreis von 75.000 € nicht zustande gekommen, weil A und B ein Scheingeschäft abgeschlossen haben: Sowohl A als auch B haben ihre für den Vertragsschluss erforderlichen Willenserklärungen im Einverständnis mit dem jeweils anderen nur zum Schein abgegeben. Tatsächlich wollten beide den Abschluss eines Vertrages mit dem Inhalt „Kaufpreis 75.000 €“ nicht. Der Vertrag ist daher gem. § 117 Abs. 1 als Scheingeschäft nichtig.
Es könnte aber ein Vertrag über 100.000 € zustande gekommen sein. Tatsächlich wollten beide einen Vertrag mit diesem Inhalt abschließen. Das Scheingeschäft diente lediglich dazu, dieses – in Wahrheit beabsichtigte – Geschäft zu verdecken. Dennoch ist das verdeckte Rechtsgeschäft in diesem Falle ebenfalls nichtig, und zwar aufgrund der §§ 117 Abs. 2, 311 b Abs. 1 S. 1, 125 S. 1: Das verdeckte Rechtsgeschäft ist nämlich nicht automatisch immer wirksam, sondern nur dann, wenn unabhängig von dem Scheingeschäft alle ansonsten bestehenden Wirksamkeitsvoraussetzungen vorliegen. Das ist hier jedoch nicht der Fall: Gem. § 311 b Abs. 1 S. 1 bedarf der Vertrag der notariellen Beurkundung. Da ein Vertrag mit dem tatsächlich gewollten Kaufpreis in Höhe von 100.000 € aber nicht beurkundet worden ist, ist das verdeckte Rechtsgeschäft gem. §§ 125 S. 1, 311 b Abs. 1 S. 1 wegen Formmangels nichtig.

Also kann A von B die Übereignung des Grundstücks gem. § 433 Abs. 1 nicht verlangen.

Merken Sie sich bitte die Eselsbrücke:
Das Beurkundete ist nicht gewollt: § 117 Abs. 1
Das Gewollte ist nicht beurkundet: § 117 Abs. 2
Wie wäre im obigen Fall zu entscheiden, wenn beide aufgrund des beurkundeten Kaufvertrages über einen Preis von 75.000 € die Übereignung des Grundstückes gem. §§ 873 Abs. 1, 925 Abs. 1 auf A herbeigeführt hätten (Auflassung und Eintragung) und B anschließend die vereinbarten 100.000 € von A verlangen würde, A aber nur 75.000 € zahlen will?
Kleiner Tipp: § 433 Abs. 2! Aber: Vorgetäuschtes Rechtsgeschäft gem. § 117 Abs. 1 nichtig! Verheimlichtes Rechtsgeschäft grundsätzlich wirksam nach § 117 Abs. 2; aber: nichtig gem. §§ 125, 311 b Abs. 1 S. 1; aber Formverstoß geheilt über §§ 311 b Abs. 1 S. 2, 873 Abs. 1, 925 Abs. 1.

Der geheime Vorbehalt
Die beiden weiteren im Gesetz geregelten Fälle der bewussten Abweichung von Wille und Erklärung sollen hier nur kurz angesprochen werden.
So ist in § 116 S. 1 geregelt, dass der sog. geheime Vorbehalt (lat.: reservatio mentalis) grundsätzlich unbeachtlich ist. Ein geheimer Vorbehalt liegt vor, wenn jemand eine Erklärung abgibt, die er in Wahrheit gar nicht abgeben will, diesen bewussten Vorbehalt aber nicht kundtut, sondern für sich behält. Eine solche Erklärung ist trotz des Vorbehaltes grundsätzlich wirksam. Der Schutz des auf die Erklärung vertrauenden Partners geht vor, so § 116 S. 1.

Beispiele:
● Wenn im obigen Fall der Briefmarkensammler V, nur um den lästigen K loszuwerden, schließlich in den erbetenen Verkauf der Briefmarken einwilligt, obwohl er tatsächlich die Marken weiterhin nicht verkaufen will, dann kommt der Verkauf trotz dieses geheimen Vorbehaltes zustande.
 Wenn Jupp seinem schwerkranken Freund Max nur zur Beruhigung erklärt: „Wenn du wieder gesund bist, tausche ich meinen Porsche gegen deinen Fiesta!“, so muss er sich nach Gesundung des Max an seinem Tauschvertrag festhalten lassen.
 Etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn die Erklärungsempfänger Max und Jupp merken, dass der Erklärende jeweils tatsächlich das Erklärte nicht will. Dann verdienen sie keinen Schutz mehr, so § 116 S. 2.

Die Scherzerklärung
Schließlich regelt § 118 die sog. Scherzerklärung. Ebenso wie bei dem geheimen Vorbehalt will der Erklärende hier das Erklärte in Wahrheit bewusst nicht. Im Unterschied zum Fall des geheimen Vorbehaltes nimmt er aber an, dass der andere dies erkennen werde. Eine derartige Erklärung ist – im Gegensatz zum Fall des geheimen Vorbehaltes – gemäß § 118 nichtig.
Beispiel: Kurz vor Erreichen der Gartengaststätte ruft der völlig ausgepumpte Radler am Ende einer langen Steigung sichtlich entkräftet einem fremden Wanderer zu: „Komm her, ich schenk‘ dir mein Rad!“ Der antwortet: „Danke, sehr großzügig!“

Eine gem. § 118 nichtige Scherzerklärung stellt auch die „Bestellung“ von 1 Fass Bier im obigen Beispiel dar.

Weiteres Beispiel: Der völlig gefrustete Student R kommt aus der Klausur und sagt zu einem grinsenden Frischling: „Kannst meinen Schönfelder für’n Appel und ‘n Ei haben!“ Frischling: „Hier haste’n Appel und ‘n Ei! Her mit dem Schönfelder!“ Der Tauschvertrag ist gem. § 118 nichtig – kein Anspruch! Eben: Frischling!

Beitrag: 55 Die Anfechtung wegen Irrtums: Das unbewusste Auseinanderfallen von Wille und Erklärung

Ich halte noch einmal fest: Bis jetzt haben wir Mängel im Willen festgestellt, die auf dem Weg der Entstehung einer Willenserklärung auftreten können, und zwar deshalb, weil der Erklärende eine Diskrepanz zwischen Willen und Erklärung bewusst erzeugt. Nunmehr kommen wir zu Fällen, in denen eine dem Erklärenden unbewusste Diskrepanz von Wille und Erklärung besteht.

Bis jetzt galt für den Gesetzgeber das alte Freund-Feind-Denken, schwarz oder weiß: Entweder die Willenserklärung ist nichtig (§§ 116 S. 2, 118, 117 Abs. 1) oder wirksam (§§ 116 S. 1, 117 Abs. 2) – ein Drittes gab es nicht.
Ab jetzt taucht Neues auf! Nämlich die raffinierte Variante einer Rechtsfolge „Vernichtbarkeit“ der Willenserklärung statt „Nichtigkeit“ oder „Wirksamkeit“.

Die recht vielschichtige Fallgruppe des unbewussten Abweichens der rechtsgeschäftlichen Erklärung vom rechtsgeschäftlichen Willen zeichnet sich dadurch aus, dass der Erklärende nicht weiß, dass sich sein Wille nicht mit dem objektiven Inhalt seiner Erklärung deckt.
Man spricht daher in allen von dieser Fallgruppe umfassten Fallkonstellationen entsprechend dem allgemeinen Sprachgebrauch vom Irrtum des Erklärenden (außer im Fall von § 123).
In den anschließenden Erläuterungen wird aus Gründen der besseren Verständlichkeit zunächst die Frage untersucht, welche Rechtsfolge das Gesetz an das Vorhandensein eines Irrtums knüpft, anschließend wird im Einzelnen dargestellt, unter welchen Voraussetzungen ein juristisch relevanter Irrtum vorliegt.

Und jetzt ein Beispielsfall: V will K sein Pferd „Hatatitla“ verkaufen für 10.000 €. In das schriftliche Angebot setzt V versehentlich statt 10.000 € nur 1.000 € ein. K nimmt das Angebot rechtzeitig an und verlangt von V gem. § 433 Abs. 1 Übereignung von „Hatatitla“.

Bei V liegt ein Irrtum vor. Er weiß nicht, dass sein subjektiver Wille 10.000 € und seine objektive Erklärung 1.000 € auseinander fallen. Wille und Erklärung fallen unbewusst auseinander.
Bei der Frage, welche Rechtsfolge das Gesetz an das Vorliegen eines solchen Irrtums knüpfen sollte, befand sich der Gesetzgeber in einer leicht nachzuvollziehenden, zwickmühlenartigen Kollision zweier gegensätzlicher Interessen:
● Im Interesse des Irrenden V liegt es nahe, seiner Erklärung keine Bedeutung zukommen zu lassen, sie also für nichtig zu erklären, um ihn nicht an einer Rechtsfolge festzuhalten, die er nicht gewollt hat. Also: Nichtigkeit!
● Einer solchen z.B. den Regelungen der §§ 105, 118, 117 Abs. 1 vergleichbaren Lösung widerspricht aber das Interesse des Erklärungsempfängers K, der sich bis zur Aufdeckung des Irrtums regelmäßig schon auf die Willenserklärung eingestellt hat, ohne von dem Irrtum des Erklärenden wissen zu können; ihm wäre sicherlich die Lösung nach § 116 S. 1 sympathischer. Also: Gültigkeit!
Nehmen Sie an, wegen des besonders günstigen Kaufangebotes schlägt der K ein anderes Angebot bzgl. des Pferdes „Iltschi“ aus. Wenn nun das günstige Angebot „Hatatitla“ im Falle eines Irrtums des Anbietenden V nichtig wäre, könnte K nicht mehr auf das andere Angebot „Iltschi“ eingehen, weil dieses inzwischen gem. § 146 1. Alt. erloschen ist.
Der Gesetzgeber hat sich aus diesem Grunde für einen beide Interessen berücksichtigenden Mittelweg entschieden, den ich Ihnen zunächst deduktiv und anschließend induktiv erläutern will.
In keinem Falle ist die Erklärung allein wegen eines Irrtums der Erklärenden von vorneherein nichtig. Umgekehrt sind sogar alle Willenserklärungen, denen ein Irrtum zugrunde liegt, zumindest zunächst uneingeschränkt wirksam (wenn die allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen vorliegen, was hier unterstellt wird).
In einigen, im Gesetz genau abgegrenzten Fällen des Irrtums (§ 119 Abs. 1, Abs. 2) geht der Gesetzgeber nun von seinem Freund-Feind-Denken „nichtig oder wirksam“ ab und räumt dem Erklärenden das Recht ein, durch eine besondere weitere Willenserklärung, die sog. Anfechtungserklärung, im Nachhinein der Erklärung die Wirksamkeit zu nehmen. Erst aufgrund der Anfechtung und nur, wenn diese überhaupt erklärt wird, wird die ursprüngliche Willenserklärung unwirksam, dann aber von vornherein (ex-tunc), § 142 Abs. 1.
Also: Die Willenserklärung des V ist nicht nichtig! Sie ist wirksam, aber vernicht-bar, d.h., sie kann durch eine einseitige, im Ermessen des V stehende Anfechtungs-Willenserklärung vernichtet werden, so der bedeutende § 142 Abs. 1.

Zum Ausgleich von Nachteilen, die der Erklärungsempfänger K durch die nachträglich eintretende Nichtigkeit erleiden kann, steht diesem gegen den Anfechtenden V unter bestimmten Voraussetzungen ein Schadenersatzanspruch zu, § 122, ein Umstand, der den V vielleicht veranlassen könnte, nicht den Weg der Anfechtung zu gehen. (Im Übrigen soll es honorige Leute geben, die sagen: „Was ich erklärt habe, gilt!“)

Bitte prägen Sie sich die vorstehende Systematik genau ein, ihre Unkenntnis ist erfahrungsgemäß in Klausuren häufig eine Quelle folgenreicher Fehler.

1. Der Irrtum als Anfechtungsgrund

Beispielsfälle: Student Felix Flott möchte von dem Gebrauchtwagenhändler Willi Windig einen VW-Cabrio kaufen.
a. Felix bietet dem Windig versehentlich einen Preis von 5.400 €. Tatsächlich wollte er 4.500 € sagen. Mehr als 4.500 € hat Felix nicht zur Verfügung. Windig nimmt das Angebot sofort an.
b. Felix fragt zunächst nach dem Preis und versteht 4.100 €, obwohl Windig „4.900  €“ gesagt hatte. Felix erklärt erfreut: „Ich nehme an!“
c. Felix möchte mit dem Cabrio nur seine Chancen bei einer Kommilitonin, auf die er ein Auge geworfen hat, steigern. Ansonsten fährt er lieber geschlossene und schnellere Pkw. Kurz nach dem Kauf gibt die Kollegin ihre Verlobung mit einem radfahrenden Studenten bekannt. Für Felix bricht eine Welt zusammen – auch der Kaufvertrag?
d. Felix glaubt aufgrund des 5-stelligen Kilometerzählers, der Wagen sei 91.400 km gelaufen. Tatsächlich beträgt die Laufleistung 191.400 km. Vor diesem Hintergrund nimmt Felix das für einen Kilometerstand von 91.400 km angemessene Angebot von 4.900 € des Windig an.
Ist Felix in den einzelnen Fällen zur Anfechtung seiner Willenserklärung berechtigt?

● Der Erklärungsirrtum
Ein Anfechtungsrecht besteht zunächst bei Vorliegen des Anfechtungsgrundes eines Erklärungsirrtums. Von einem solchen spricht man gem. § 119 Abs. 1 2. Alt. dann, wenn der Erklärende eine Willenserklärung mit dem Inhalt, den sie tatsächlich hat, überhaupt nicht abgeben wollte. So liegt der Fall a., weil Felix den Preis von 5.400 € tatsächlich nicht anbieten wollte und nur versehentlich genannt hat.
Die Fälle des Erklärungsirrtums sind dadurch gekennzeichnet, dass der Erklärende sich verschreibt, verspricht, vergreift, oder sich in ähnlicher Weise „vertut“. Das heißt, er verwendet ein falsches Erklärungszeichen. Auch der versehentliche Kauf eines gelben Radioweckers anstelle des an sich gewollten roten (vgl. das obige Beispiel) stellt einen solchen Fall des Erklärungsirrtums dar. Der Erklärende will bei einem Erklärungsirrtum die fragliche Willenserklärung gar nicht abgeben; er weiß gar nicht, was er sagt. Der Mangel steckt im Erklärungsteil der Willenserklärung.
Dass ein Fall des Erklärungsirrtums vorliegt, bewirkt allein die Anfechtbarkeit der betroffenen Willenserklärung allerdings noch nicht. § 119 Abs. 1 verlangt vielmehr weiter, dass „anzunehmen ist, dass der Erklärende bei Kenntnis der Sachlage und verständiger Würdigung des Falles die Willenserklärung nicht abgegeben“ hätte. Das Gesetz stellt also zusätzlich darauf ab, dass der Irrtum für die Abgabe der Willenserklärung kausal gewesen sein muss. Es muss mithin anzunehmen sein, dass der Erklärende, wenn ihm der Irrtum nicht unterlaufen wäre, die betreffende Willenserklärung auch nicht abgegeben hätte.
Beispiel: Lydia Lustig ist begeisterte Leserin der Kriminalromane von Agatha Christie, die sie inzwischen bis auf zehn Stück alle kennt. Insbesondere fehlen ihr noch die Bände 80 und 81, die zeitweilig vergriffen waren. Obwohl sie eigentlich Band 80 bestellen will, bestellt Lydia nach Erscheinen einer Neuauflage bei einer Versandbuchhandlung Band 81, den sie bald darauf erhält. Während der Lektüre des Buches, das ihr wider Erwarten nicht gefällt, bemerkt Lydia ihren Irrtum. Kann sie ihr Kaufangebot anfechten?

Auch in diesem Falle liegt ein Erklärungsirrtum vor, weil Lydia den bestellten Band 81 tatsächlich nicht bestellen wollte. Dennoch kann sie ihre Willenserklärung nicht anfechten, weil anzunehmen ist, dass ihr bei der Bestellung Band 81 genauso lieb war, sie also in jenem Zeitpunkt die Verwechslung hätte auf sich beruhen lassen.
Im Beispielsfall a. ist die erforderliche Kausalität gegeben, weil Felix schon gar nicht die Mittel hat, den höheren Betrag auszugeben.

● Der Inhaltsirrtum
Ebenfalls zur Anfechtung berechtigt der Anfechtungsgrund eines sog. Inhaltsirrtums. Er liegt gem. § 119 Abs. 1 1. Alt. vor, wenn der Erklärende zwar die fragliche Erklärung genauso abgeben will, wie er es tut, ihr aber inhaltlich eine falsche Bedeutung beimisst, also „über den Inhalt im Irrtum“ ist. Besser würde man statt von Inhaltsirrtum von Bedeutungsirrtum reden, es wäre plastischer. Der Erklärende will bei einem Inhaltsirrtum die fragliche Willenserklärung so (!) nicht abgeben; er weiß, was er sagt – er weiß aber nicht, was er damit sagt. Der Mangel steckt im Geschäftswillenteil der Willenserklärung.
Das lässt sich am besten durch das Beispiel verdeutlichen: Im Fall b. liegt kein Erklärungsirrtum vor, weil Felix die Erklärung, die er abgegeben hat, so auch abgeben wollte. Felix hat zum Ausdruck gebracht, er nehme das Angebot des Windig an, und wollte dies auch. Er hat sich allerdings über die Bedeutung seiner Erklärung geirrt: Während Felix annahm, er gehe auf ein Vertragsangebot über den günstigen Preis von 4.100 € ein, hat er in Wahrheit eine Willenserklärung mit dem Inhalt: „Ich nehme das Angebot über 4.900 € an“ abgegeben. Die äußere Erklärung von „4.100 €“ war gewollt; Felix wusste aber nicht, welche Bedeutung der Rechtsverkehr ihr beimaß.
Auch ein Inhaltsirrtum berechtigt gem. § 119 Abs. 1 1. Alt. den Erklärenden nur dann zur Anfechtung, wenn er für seine Erklärung kausal war.

Ein Beispiel für fehlende Kausalität (Abwandlung des obigen Beispiels): Nach Erscheinen der Neuauflage erhält Lydia als Stammkundin von der Versandbuchhandlung ein schriftliches Angebot, Band 81 der Krimiserie zu kaufen. Lydia meint versehentlich, ihr sei Band 80 angeboten worden, und bestellt sofort, indem sie „Ihr freundliches Angebot“ annimmt.

Auch hier liegt ein Inhaltsirrtum vor, weil Lydia sich über den objektiven Inhalt ihrer Erklärung – nämlich die Annahme des Angebotes, Band 81 zu kaufen – irrt, indem sie annahm, auf ein Angebot einzugehen, das Band 80 betraf. Wiederum kann Lydia aber wegen fehlender Kausalität ihre Willenserklärung nicht anfechten, weil anzunehmen ist, dass sie ohne die Verwechslung auch Band 81 gekauft hätte.

Im Beispielsfall b. ist die erforderliche Kausalität gegeben, weil ohne Anhaltspunkte hierfür nicht angenommen werden kann, dass Felix 800 € und damit fast ein Fünftel mehr als die von ihm angenommene Summe von 4.100 € aufzubringen bereit gewesen wäre.

Zur Abgrenzung: Es ist schon teuflisch schwierig, den einen Irrtum vom anderen abzugrenzen. Deshalb noch ein weiteres

Beispiel: Das Reisebüro schickt Jupp Schmitz ein Sonderangebot über zwei Reisen zu:
1. Südamerika im Bus,
2. Südafrika im Bus
Preis jeweils 2000 €. Jupp schreibt prompt zurück:

Variante 1: „Ich buche die Südamerikareise.“
Er dachte, es handele sich dabei um Florida!

Variante 2: „Ich buche die Südafrikareise.“
Er wollte schreiben: „Südamerikareise“.

Während Jupp in Variante 2 die Erklärung „Südafrikareise“ überhaupt nicht abgeben wollte, sich nur verschrieben hatte, wollte er in Variante 1 die Erklärung „Südamerikareise“ sehr wohl äußerlich abgeben, allerdings nicht mit dieser Bedeutung (südamerikanischer Kontinent), sondern mit dem Inhalt „Florida“ (Süden der U.S.A.); er wollte sie nicht so (!) abgeben, wie der Verkehr, das Reisebüro, sie verstehen musste, nämlich „südamerikanischer Kontinent“.
Abgrenzung Inhalts-/Erklärungsirrtum
§ 119 Abs. 1 BGB

Merksatz zum Inhaltsirrtum: Der Erklärende weiß, was er sagt, er weiß aber nicht, was er damit sagt.

Merksatz zum Erklärungsirrtum: Der Erklärende weiß gar nicht, was er sagt.
Der Unterschied mag auch deutlich werden an den verschiedenen Voraussetzungen, die in den Beispielsfällen a. und b. nötig sind, um Felix auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen: Während es im Falle a. ausreichen würde, Felix darauf hinzuweisen, er habe 5.400 € (und nicht 4.500 €) als Angebot genannt, genügt im Fall b. der Hinweis nicht, er habe das Angebot des Windig angenommen, weil ihm das selbst klar ist. Hier muss Felix darüber hinaus aufgeklärt werden, dass das Angebot nicht 4.100 €, sondern in Wahrheit 4.900 € lautete.
Die Unterscheidung zwischen beiden Arten des Irrtums kann im Einzelfall schwierig zu treffen sein. Das hat seine Ursache auch darin, dass jeder Erklärungsirrtum zugleich auch die Tatbestandsvoraussetzungen des Inhaltsirrtums erfüllt (wer sich verschreibt – Erklärungsirrtum! –, weiß eben nicht, welchen Inhalt seine Erklärung hat). Der Erklärungsirrtum ist also ein Unterfall des Inhaltsirrtums. Da die Rechtsfolgen beider Irrtumsarten identisch sind, kann nicht selten dahinstehen, ob der spezielle Fall des Erklärungsirrtums oder der Grundfall des Inhalts­irrtums vorliegt.

● Der Eigenschaftsirrtum
Mit den soeben erläuterten Fällen des Erklärungs- und des Inhaltsirrtums sind alle Irrtumsfälle erfasst, die bei der Abgabe der Willenserklärung auftreten.
Zu erörtern bleiben die Fälle des Irrtums bei der im Vorfeld der Willenserklärung erfolgenden Willensbildung. Wir müssen also noch einmal die Fälle des Motivirrtums aufgreifen.
Der Motivirrtum berechtigt, wie gesagt, grundsätzlich nicht zur Anfechtung der Willenserklärung. Dies hat seinen Grund insbesondere darin, dass sonst nahezu schrankenlos Rechtsgeschäfte nachträglich für nichtig erklärt werden könnten, was das Prinzip der Rechtssicherheit in einer nicht zu vertretenden Weise einschränken würde. So hat im obigen Beispielsfall c. Felix nicht die Möglichkeit, seine Vertragserklärung anzufechten und damit den Kaufvertrag unwirksam werden zu lassen. Weitere Beispielsfälle finden Sie oben bei den Motiven für den Kauf des Weckers.

Eine wichtige Ausnahme zu dem Grundsatz der Unanfechtbarkeit des Motivirrtums stellt der sog. Eigenschaftsirrtum dar.
Gemäß § 119 Abs. 2 berechtigt nämlich auch der „Irrtum über solche Eigenschaften der Person oder der Sache, die im Verkehr als wesentlich angesehen werden“, zur Anfechtung. Der Eigenschaftsirrtum ist ein Unterfall des Motivirrtums und betrifft alle Beweggründe (Motive) des Erklärenden, die sich auf verkehrswesentliche Eigenschaften der Person oder der Sache beziehen.

 Als verkehrswesentliche Eigenschaften einer Sache sind alle diejenigen Merkmale anzusehen, die aus allgemeiner Sicht ihren Wert erhöhen. Kurz: alle wertbildenden Faktoren.

Ein Beispiel bildet der obige Fall d.: Felix wusste, dass er erklärt, er kaufe einen Wagen für 4.900 €; er wusste auch, was er damit erklärt, so dass ein Inhalts- oder Erklärungsirrtum ausscheidet; Wille und Erklärung fielen nicht unbewusst auseinander. Er ist jedoch zu dieser – an sich korrekten – Willenserklärung „bewogen“, „motiviert“ worden, durch die Annahme, das Auto sei erst 91.400 km gelaufen. Dieses Motiv war falsch! Ob der Wagen aber 91.400 km oder 100.000 km mehr gelaufen ist, stellt wegen der damit verbundenen Abnutzung nach allgemeiner Anschauung einen wertbildenden Faktor dar. Es liegt somit ein Eigenschaftsirrtum vor, weil Felix zu Unrecht angenommen hat, der Wagen sei lediglich 91.400 km gelaufen und weise damit einen höheren Wert auf, als dies tatsächlich der Fall war.
Eine verkehrswesentliche Eigenschaft bilden z.B. auch die Echtheit eines Kunstwerkes sowie die Bebaubarkeit eines Grundstückes, die Größe, das Material, die Qualität, die Herkunft, das Alter oder die Quantität.

 Welche Eigenschaften einer Person als verkehrswesentlich anzusehen sind, hängt von der Art des abgeschlossenen Geschäftes ab. Maßgeblich ist dabei, ob gerade bei solchen Geschäften nach der allgemeinen Verkehrsanschauung die fragliche Eigenschaft des Betroffenen für den Erklärenden von Bedeutung ist (Geschlecht, Alter, Sachkunde, Vertrauenswürdigkeit, Gebrechlichkeit).

Beispiel: Vermieter V schließt einen langfristigen Mietvertrag mit M über ein möbliertes Zimmer. Anschließend erfährt er, dass M mehrfach wegen Betruges und Diebstahls vorbestraft ist. Das strafrechtliche Vorleben des M stellt eine verkehrswesentliche Eigenschaft seiner Person i.S. des § 119 Abs. 2 dar, weil die Aufrechterhaltung eines Mietverhältnisses dem Vermieter nur zugemutet werden kann, wenn dieser sicher sein kann, dass die vermieteten Sachen nicht gestohlen werden und der Mietzins entrichtet wird.

Demgegenüber hätte V als Verkäufer kein Anfechtungsrecht, wenn er in einem Bargeschäft dem M z.B. ein Fernsehgerät verkauft hätte, weil es nach der allgemeinen Verkehrsanschauung für einen Verkäufer, der sein Geld erhalten hat, regelmäßig ohne Bedeutung ist, ob der Käufer früher Diebstähle und Betrügereien begangen hat.
 Verkehrswesentlich sind die Eigenschaften dann, wenn sie entweder ausdrücklich oder zumindest stillschweigend zum Vertragsinhalt gemacht worden sind, wenn sie also im „Verkehr“ und nicht nur subjektiv von einer Partei als „wesentlich“ angesehen werden.
 In beiden Fällen des Eigenschaftsirrtums – a. und b. – ist weitere Voraussetzung für das Anfechtungsrecht des Erklärenden, dass der Irrtum für seine Erklärung kausal war. Das ergibt sich nicht nur aus Sinn und Zweck des Anfechtungsrechtes, sondern auch indirekt aus dem Wortlaut des § 119 Abs. 2: Dieser stellt den Eigenschaftsirrtum nämlich ausdrücklich dem Inhaltsirrtum gleich, für den § 119 Abs. 1 dieses Erfordernis aufstellt (§ 119 Abs. 2 i.V. mit § 119 Abs. 1).

Kurzer Zwischenstopp:
Damit ergeben sich für Sie folgende Prüfungspakete für den Anfechtungsgrund:
1. § 119 Abs. 1 1. Alt.: Inhaltsirrtum
a. Irrtum über die Bedeutung der Erklärung
b. Bei Abgabe der WE
c. Kausalität zwischen a. und b.
2. § 119 Abs. 1 2. Alt.: Erklärungsirrtum
a. Irrtum in der Erklärungshandlung
b. Bei Abgabe der WE
c. Kausalität zwischen a. und b.
3. § 119 Abs. 2: Eigenschaftsirrtum
a. Irrtum im Motiv
b. Über wertbildende Faktoren, also Eigenschaften
ba. der Sache
bb) der Person
c. Bei Abgabe der WE
d. Verkehrswesentlichkeit
e. Kausalität zwischen a., b. und c.
Liegt einer der dargelegten Irrtumsfälle, die zur Anfechtung berechtigen, vor, so bildet er den sog. Anfechtungsgrund. Neben den Irrtumsfällen gibt es weitere Anfechtungsgründe. Diese werden wir weiter unten erörtern.

● Der Grundsatz: „Auslegung geht vor Anfechtung“
Für alle drei soeben erläuterten Fälle des Irrtums ist noch der wichtige Grundsatz zu erörtern, wonach vor einer evtl. Anfechtung der Willenserklärung wegen Irrtums zunächst eine Auslegung der Willenserklärung zu erfolgen hat, sofern die Umstände hierfür Anlass geben.
Dies sei zunächst an unserem Beispielsfall b. näher erläutert: Das soeben zutreffend erarbeitete Ergebnis, wonach in jenem Beispielsfall ein Inhaltsirrtum vorliegt, setzt voraus, dass die Erklärung von Felix inhaltlich tatsächlich von dem abweicht, was er erklären wollte. Die knappe Erklärung von Felix darf in ihrer ausführlichen Fassung also nicht lauten: „Ich kaufe den Wagen für 4.100 €“. Denn dann hätte er ja gerade das zum Ausdruck gebracht, was er zum Ausdruck bringen wollte.
Was der Inhalt der tatsächlich erklärten Willenserklärung ist, ist – sofern der Wortlaut nicht eindeutig ist – nach den Grundsätzen der §§ 133 und 157 durch Auslegung zu ermitteln. Erst wenn diese Auslegung die Irrtumskonstellation (unbewusstes Abweichen von Wille und Erklärung) ergibt, ist Raum für eine Anfechtung.
Im Beispielsfall b. ist die Auslegung der Annahmeerklärung von Felix notwendig, weil die Erklärung „Ich nehme an“ keine Willenserklärung darstellt, die allein aus ihrem Wortlaut heraus verständlich wäre. Erst eine Berücksichtigung der Gesamtumstände, insbesondere des Inhaltes der vorangegangenen Angebotserklärung des Windig über den Preis von 4.900 €, ergibt, dass die Erklärung von Felix nur als Annahme des Vertragsangebotes zu diesem höheren Preis von 4.900 € verstanden werden kann. Denn:

Vertragserklärungen sind als empfangsbedürftige Willenserklärungen gem. §§ 133, 157 so auszulegen, wie sie der Erklärungsempfänger nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte verstehen durfte. (Siehe zur „Auslegung“ ausführlich „Juristische Entdeckungen – Bd. I“)

2. Die weiteren Voraussetzungen einer wirksamen Anfechtung
Wie oben bereits erwähnt, führt die wirksame Anfechtung gem. § 142 Abs. 1 zur Nichtigkeit der Willenserklärung. Wegen dieser weitreichenden Folge des § 142 Abs. 1 hat der Gesetzgeber im Interesse der Rechtssicherheit bestimmte Anforderungen an die Wirksamkeit einer Anfechtung festgelegt.
Bei § 142 Abs. 1 treffen wir auf ein wunderbares Beispiel für das den Gesetzen eingeborene Konditionalprogramm: Wenn (Tatbestandsvoraussetzungen) – Dann (Rechtsfolge).
Wenn: „Wird ein anfechtbares Rechtsgeschäft angefochten …“
Erstes TBM: „angefochten“ – es ist also eine Anfechtungserklärung mit allem Drum und Dran innerhalb der Anfechtungsfrist erforderlich.
Zweites TBM: „anfechtbares“ Rechtsgeschäft – also ein Anfechtungsgrund muss vorliegen

Dann: „… ist es als von Anfang an nichtig anzusehen.“

● Die Anfechtungserklärung
So ist zunächst erforderlich, dass der Anfechtungsberechtigte eine Anfechtungserklärung abgibt (§§ 142 Abs. 1, 143 Abs. 1). Dabei handelt es sich um eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung, die formlos, ausdrücklich oder konkludent abgegeben werden kann (§§ 133, 157).
Häufig wird von der „Anfechtung des (Kauf-)Vertrages“ gesprochen. Dies ist streng genommen ungenau: Anfechten kann der Erklärende nämlich immer nur seine eigene Willenserklärung. Mehr will auch das Gesetz im § 142 Abs. 1 nicht zum Ausdruck bringen. Diese Ungenauigkeit ist jedoch unschädlich: Die durch die Anfechtung herbeigeführte Nichtigkeit der Willenserklärung eines Vertragspartners zieht nämlich immer die Unwirksamkeit des gesamten Vertrages nach sich, weil anschließend nicht mehr zwei sich deckende Willenserklärungen vorhanden sind.

● Der Zugang
Die Anfechtungserklärung muss gem. § 130 Abs. 1 wirksam werden. Dazu ist oben schon alles gesagt! (Vgl. 2.4.2.2)

● Der Anfechtungsgegner
Die Anfechtungserklärung muss gegenüber dem sog. Anfechtungsgegner wirksam (Zugang gem. § 130) erfolgen, also den richtigen Adressaten treffen.
Das Gesetz bestimmt in den Absätzen 2 bis 4 des § 143 für die verschiedenen Willenserklärungen, wer jeweils der richtige Anfechtungsgegner ist. Danach ist gem. § 143 Abs. 2 bei einem Vertrag grundsätzlich der Vertragspartner und bei einem empfangsbedürftigen einseitigen Rechtsgeschäft gem. § 143 Abs. 3 S. 1 der Empfänger der Willenserklärung der Anfechtungsgegner. Die weiteren Regelungen der vorbezeichneten Absätze haben keine große praktische Bedeutung und sollen daher hier nicht weiter erörtert werden.
Dass die Erklärung gegenüber dem Anfechtungsgegner erfolgen muss, schließt nicht aus, dass ein (Empfangs-)Vertreter für den Anfechtungsgegner auftritt.

Beispiel: Veräußerer V hat sich bei den Verhandlungen über die Veräußerung seines Grundstückes von dem mit Generalvollmacht ausgestatteten Makler M vertreten lassen. Nach Abschluss des Vertrages will Käufer K seine Vertragserklärung anfechten. Wegen der bestehenden Vollmacht kann er die Anfechtung nicht nur dem V persönlich, sondern auch dem M als dessen Stellvertreter gegenüber erklären, §§ 164 Abs. 1, Abs. 3.

● Der Anfechtungsgrund
An dieser Stelle sind die Prüfungspakete der Anfechtungsgründe einzuprüfen: §§ 119 Abs. 1 1. Alt., 119 Abs. 1 2. Alt., 119 Abs. 2, sowie der noch zu besprechende § 123.

● Die Anfechtungsfrist
Weitere Voraussetzung der Wirksamkeit der Anfechtung ist die Einhaltung der in §121 festgeschriebenen Anfechtungsfrist. Nach dieser Bestimmung muss die Anfechtung in den Fällen des § 119 „ohne schuldhaftes Zögern (unverzüglich) erfolgen, nachdem der Anfechtungsberechtigte von dem Anfechtungsgrunde Kenntnis erlangt hat.“
Auch diese Regelung dient der Rechtssicherheit: Es soll im Interesse des Anfechtungsgegners so schnell wie möglich Klarheit darüber geschaffen werden, ob der Anfechtungsberechtigte von seinem Anfechtungsrecht Gebrauch macht oder nicht.
Der Begriff „ohne schuldhaftes Zögern“ steht im Gegensatz zu dem Begriff „sofort“ in § 147: Während die Formulierung „sofort“ keine Verzögerung zulässt, räumt der Gesetzgeber mit den Worten „ohne schuldhaftes Zögern“ dem Berechtigten eine angemessene Überlegungsfrist ein. Verspätet (und deswegen unwirksam) ist die Abgabe der Anfechtungserklärung erst dann, wenn der Anfechtende zu lange, also „schuldhaft“ zögert. Eine feste Regel über die Dauer der dem Anfechtenden zustehenden Überlegungsfrist kann nicht generell gegeben werden, weil die in Betracht kommenden Fälle zu unterschiedlich sind. So wird man z.B. im Falle eines umfangreichen Vertragswerkes, von dem große Werte betroffen sind, dem Anfechtungsberechtigten eine längere Überlegungsfrist einräumen müssen als in den vorgenannten Beispielsfällen über den Erwerb des VW-Cabrio.
Der Gesetzgeber hat im § 121 Abs. 1 eine sog. „Legaldefinition“ vorgenommen, indem er die Formulierung „ohne schuldhaftes Zögern“ dem Begriff „unverzüglich“ zuordnete. Damit ist festgelegt, dass der an mehreren Stellen des Gesetzes (auch anderer Gesetze) auftauchende Begriff „unverzüglich“ – so z.B. in § 174 S. 1 – eben nicht „sofort“, sondern „ohne schuldhaftes Zögern“ bedeutet.
Nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 121 Abs. 1 Satz 2 muss bei einer Anfechtung unter Abwesenden lediglich die Absendung der Anfechtungserklärung unverzüglich erfolgen. Eine anschließend etwa verzögerte Übermittlung macht die Anfechtung nicht wegen Verspätung unwirksam. Wirksam wird die Anfechtung in diesen Fällen allerdings nach der allgemeinen Regel des § 130 Abs. 1 S. 1 trotzdem erst mit ihrem Zugang bei dem Erklärungsempfänger, was im Hinblick auf die Bestimmung des § 130 Abs. 1 Satz 2 Bedeutung haben kann.

Wenn mithin die vorgenannten Voraussetzungen
● Anfechtungserklärung gem. §§ 133, 157, 143 Abs. 1, 142 Abs. 1
● Wirksamwerden gem. § 130 Abs. 1
● Richtiger Adressat gem. § 143 Abs. 2 – Abs. 4
● Anfechtungsgrund
 § 119 Abs. 1 1. Alt.
 § 119 Abs. 1 2. Alt.
 § 119 Abs. 2
● Anfechtungsfrist gem. § 121 vorliegen,

dann ist ein „anfechtbares Rechtsgeschäft“ (Anfechtungsgrund) „wirksam angefochten“ (Anfechtungserklärung) und bewirkt gem. § 142 Abs. 1 die Nichtigkeit der Willenserklärung ex-tunc.

Beitrag: 56 Die weiteren Anfechtungsgründe des § 123 BGB

Wie oben schon angedeutet, stellen die verschiedenen Arten des Irrtums nicht die einzigen Anfechtungsgründe dar. Vielmehr berechtigen gem. § 123 Abs. 1 auch die arglistige Täuschung (1. Alt.) und die widerrechtliche Drohung (2. Alt.) zur Anfechtung.
Beide Fälle sind dadurch gekennzeichnet, dass bei ihnen Wille und Erklärung des Erklärenden deswegen auseinanderfallen, weil der Vertragspartner oder ein Dritter auf den Willen des Erklärenden Einfluss nimmt und so bewirkt, dass dieser eine Erklärung abgibt, die er tatsächlich nicht abgeben will. Es handelt sich daher ebenfalls um gesetzlich geregelte Fälle von Willensmängeln. Damit soll die Freiheit der Willensentschließung geschützt werden

● Die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung

Beispiel: Im obigen Beispielsfall d. weiß Windig genau, dass der Wagen 191.400 km gelaufen ist. Auf Nachfrage von Felix verweist er lediglich auf den Kilometerzähler.

 Die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung setzt zunächst eine Täuschungshandlung voraus. Das ist ein Verhalten, das durch Vorspiegelung falscher Tatsachen darauf abzielt, in einem anderen einen Irrtum hervorzurufen, zu bestärken oder zu unterhalten. Dies tut Windig im obigen Beispiel durch den Hinweis auf den (falschen) Kilometerstand.
Streng genommen stellt die durch § 123 Abs. 1 eingeräumte Möglichkeit der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung also eine Ausnahme von dem Grundsatz dar, dass ein Motivirrtum nicht zur Anfechtung berechtigt. Denn der durch die Täuschung hervorgerufene Irrtum ist regelmäßig ein „Irrtum im Beweggrund“ (Motivirrtum).

 Die Entscheidung des Erklärenden muss auf dieser Täuschung – über den durch sie erregten (Motiv-)Irrtum – beruhen, sie muss also für den Irrtum und damit für die Abgabe seiner Willenserklärung ursächlich (kausal) sein. Im Beispielsfall bewirkt die Erklärung des Windig den Irrtum bei Felix, der wiederum bewirkt, dass Felix den Wagen kauft.

 Schließlich besagt das Tatbestandsmerkmal „arglistig“, dass der Täuschende vorsätzlich handeln muss. Vorsatz bedeutet Folgendes: Er muss „wissen und wollen“, dass er seinen Vertragspartner täuscht, dieser sich daraufhin irrt und aufgrund des Irrtums eine Willenserklärung abgibt, die er ohne den Irrtum so nicht abgegeben hätte. Dies ist im Beispielsfall ohne weiteres anzunehmen.

● Die Anfechtung wegen widerrechtlicher Drohung

Beispiel: Nach einem Verkehrsunfall verlangt der geschädigte Felix Flott von dem Unfallgegner Rudi Rasant, der den Unfall verschuldet hat, dass dieser ein Schuldanerkenntnis unterschreibe. Er droht damit, ansonsten
a. Rudi zusammenzuschlagen,
b. die Polizei zu verständigen, die dann auch feststellen werde, dass Rudi vor der Fahrt Alkohol getrunken habe.
Daraufhin unterschreibt Rudi das Schuldanerkenntnis.

 Eine Drohung liegt vor, wenn jemand ein zukünftiges Übel in Aussicht stellt und – im Gegensatz zur bloßen Warnung – dabei erklärt, auf den Eintritt des Übels Einfluss zu haben. In beiden obigen Beispielsfällen a. und b. liegt demnach eine Drohung vor, weil sowohl die Schläge als auch die Aufdeckung der Alkoholfahrt durch die Polizei für Rudi ein zukünftiges Übel darstellen, dessen Eintritt (nach seinen Worten) von Felix‘ Willen abhängt.

 Diese Drohung muss für die Abgabe der Willenserklärung kausal gewesen sein. Das heißt, dass die Erklärung trotz Vorliegens einer Drohung nicht anfechtbar ist, wenn der Erklärende sie ohnehin abgegeben haben würde. In den Beispielsfällen kann Rudi demnach seine Erklärung nicht anfechten, wenn er ohnehin die Absicht hatte, sie zu unterschreiben, etwa weil er als Alleinschuldiger des Unfalles dies für moralisch angebracht hielt.

 Schließlich ist die erforderliche Widerrechtlichkeit zu erörtern. Der Bedrohte muss nämlich nach dem Gesetzeswortlaut „widerrechtlich durch Drohung“ zur Abgabe seiner Willenserklärung bestimmt worden sein.
Hierbei ist zwischen drei Fallgruppen zu unterscheiden, auf die hier aber nur kurz hingewiesen werden soll:
Der Drohende handelt widerrechtlich, wenn
das eingesetzte Mittel widerrechtlich ist oder
der erstrebte Zweck der Drohung widerrechtlich ist oder
der Einsatz eines an sich rechtmäßigen Mittels zur Erreichung eines an sich rechtmäßigen Zieles widerrechtlich ist, weil gerade die Verbindung beider Elemente die Widerrechtlichkeit ausmacht (Widerrechtlichkeit der sog. „Mittel-Zweck-Relation“).

In der Fallvariante a. besteht ein Anfechtungsgrund, weil das eingesetzte Mittel der Schläge widerrechtlich ist (§ 223 StGB; § 823 Abs. 1): Der vorangegangene Unfall gibt Felix nicht das Recht, durch körperliche Gewalt den Zweck der Anerkennung eines bestehenden Anspruches zu erzwingen. Der mit der Drohung angestrebte Zweck ist nicht widerrechtlich, weil Rudi den Unfall verschuldet hat und daher verpflichtet ist, den Schaden zu ersetzen (§§ 7 StVG, 823 Abs. 1).
In der Fallvariante b. besteht ein Anfechtungsrecht nicht, weil Felix – wie jeder Unfallbeteiligte – berechtigt ist, den Hergang des Unfalles durch die Polizei ermitteln und festhalten zu lassen. Das Mittel ist genauso rechtmäßig wie der Zweck der Drohung.
Ein Beispiel für die Fallgruppe c. liegt vor, wenn Felix mit der Einschaltung der Polizei für den Fall droht, dass Rudi eine längst fällige Darlehensschuld nicht sofort zurückzahlt. Auch hier sind zwar Mittel und Zweck der Drohung, für sich betrachtet, jeweils rechtmäßig, die Verbindung jedoch nicht, da die Darlehensrückzahlung in keinerlei Zusammenhang zum Unfall steht.

Für beide Fallgruppen dieses Abschnittes gilt noch Folgendes: Auch im Falle der Anfechtung wegen Täuschung oder Drohung gem. § 123 Abs. 1 tritt die rückwirkende Nichtigkeit gem. § 142 Abs. 1 nur ein, wenn die oben für die Irrtumsfälle ausführlich dargelegten weiteren Voraussetzungen vorliegen. So muss eine Anfechtungserklärung (§ 143 Abs. 1, 142 Abs. 1, 133, 157) abgegeben werden und zwar wirksam dem Anfechtungsgegner gegenüber (§ 130 Abs. 1), dessen Person anhand der Vorschriften des § 143 Abs. 2 bis 4 zu ermitteln ist.
Abweichendes gilt lediglich für die Anfechtungsfrist. Sie beginnt gem. § 124 Abs. 2 S. 1 erst mit der Entdeckung der Täuschung bzw. dem Ende der Zwangslage und beträgt gem. § 124 Abs. 1 ein Jahr. Einzelheiten zum Lauf dieser Frist regelt § 124 Abs. 2 S. 2 durch Verweisung auf bestimmte Vorschriften des Verjährungsrechtes. Der Drohende und Täuschende müssen länger als der durch Irrtum Beeinflusste (§ 121) das Damoklesschwert der Anfechtung fürchten!
Auch wenn bis dahin z.B. die Täuschung noch nicht bemerkt worden sein sollte, kann nach Ablauf von 10 Jahren seit Abgabe der Willenserklärung eine Anfechtung nicht mehr erfolgen (§ 124 Abs. 3).

Kleiner Trainingsfall! Denken Sie dran: „Use it or lose it!“

V erklärt wider besseres Wissen, dass der zum Verkauf angebotene Porsche „garantiert unfallfrei“ sei. Daraufhin kauft K den Porsche zu 20.000 €. Eine Woche später trifft K den ursprünglichen Ersteigentümer, der ihm eröffnet, dass der Wagen einen schweren Unfall erlitten habe. K tritt nunmehr seinen lange geplanten sechswöchigen Urlaub zu den Fidschi-Inseln an.
Nach Rückkehr verlangt er von V Rückzahlung der 20.000 €. Zu Recht?

K gegen V: § 812 Abs. 1 S. 1 1. Alt.
1. V hat gem. § 929 S. 1 Eigentum und Besitz am Geld i.H.v. 20.000 €, also ein Etwas, erlangt.
2. Diese Rechtsposition hat er – V – auch durch die Leistung des K, nämlich durch dessen zweckgerichtete Vermehrung des Vermögens des V in Erfüllung des bestehenden Kaufvertrages, erlangt.
3. Als Rechtsgrund für diese Vermögensverschiebung kommt der Kaufvertrag zwischen V und K in Betracht.
Der ursprünglich wirksame Vertrag könnte gem. § 142 Abs. 1 wirksam angefochten und somit rückwirkend nichtig geworden sein.
a. Anfechtungserklärung: gem. §§ 133, 157 das Rückzahlungsverlangen
b. Wirksamwerden: § 130 Abs. 1
c. Adressat: § 143 Abs. 2: V
d. Anfechtungsgrund
da. § 123 Abs. 1
● Täuschung
● Arglist
● Kausalität
db. § 119 Abs. 2
● Eigenschaftsirrtum
● Verkehrswesentlichkeit
● Kausalität
e. Anfechtungsfrist
ea. zu § 119 Abs. 2
Gem. § 121 ist die Frist versäumt (nicht unverzüglich)
eb. zu § 123 Abs. 1
Gem. § 124: fristgemäß (1 Jahr)
Also: Ohne Rechtsgrund
Also: K gegen V: § 812 Abs. 1 S. 1 1. Alt. schlüssig.

Beitrag: 57 Verbotene und sittenwidrige Rechtsgeschäfte

In diesem Beitrag wollen wir nun erörtern, in welchen Fällen ein Rechtsgeschäft wegen seines Inhalts nichtig ist. Auch wenn ein Rechtsgeschäft nämlich nach allen Regeln der Vertrags-, Form- und Willenserklärungskunst an sich wirksam wäre, kann ihm das Gesetz die Anerkennung immer noch verweigern.
Ähnlich wie eine bestimmte Form nur eingehalten werden muss, wenn sich dies – ausnahmsweise – aus dem Gesetz oder einer Vereinbarung ergibt, kommt eine Nichtigkeit von Rechtsgeschäften wegen deren Inhalts nur ausnahmsweise und in engen, durch das Gesetz abgesteckten Grenzen in Betracht.
Die an einem Rechtsgeschäft Beteiligten haben grundsätzlich die Möglichkeit, den Inhalt ihrer Vereinbarungen frei zu bestimmen. Das ergibt sich aus dem das BGB
– insbesondere das Schuldrecht – prägenden Prinzip der Vertragsfreiheit (Privatautonomie), d.h. der Freiheit des einzelnen Bürgers, seine Lebensverhältnisse durch Vertrag eigenverantwortlich zu gestalten, mit wem auch immer und mit welchem Inhalt auch immer. Dieses Prinzip ist für das Rechtsleben von überragender Bedeutung. Es ermöglicht den Beteiligten insbesondere, die unterschiedlichsten Vereinbarungen, ausschließlich auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet, wirksam zu treffen.
Um dieses Ziel erreichen zu können, besagt das Prinzip der Vertragsfreiheit folgerichtig weiter, dass ein z.B. schuldrechtlicher Vertrag inhaltlich nicht notwendigerweise einem der im Gesetz vorgesehenen Vertragstypen des besonderen Schuldrechts des § 433 ff. entsprechen muss.

Beispiel: Anstelle eines Miet- oder eines Kaufvertrages über einen Pkw schließen V und K einen „Mietkaufvertrag“, wonach K das Auto über eine gewisse Zeit mietet und nach Zahlung des letzten Mietzinses für einen Restbetrag das Eigentum an dem Pkw erwirbt. Ein solcher Vertrag ist wirksam, obwohl er als Vertragstyp im Gesetz nicht vorgesehen ist. Bestünde diese Möglichkeit nicht, so wären V und K darauf angewiesen, entweder einen Kaufvertrag oder einen Mietvertrag abzuschließen, obwohl weder der eine noch der andere Vertragstyp vollständig ihrem übereinstimmenden Willen entspricht.

Der Vertragsfreiheit sind allerdings inhaltlich bestimmte gesetzliche Grenzen gesetzt, deren Nichteinhaltung zur Nichtigkeit des Rechtsgeschäftes führt und zwar dort, wo durch ihren Missbrauch höherrangige Prinzipien der Gerechtigkeit, der Sittlichkeit oder auch der Sozialstaatlichkeit verletzt werden. Das Gesetz kennt hierzu u.a. zwei Fallgruppen, nämlich:
1. die Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134)
2. die Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen die guten Sitten (§ 138).

Zu 1. Der Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134 BGB)
Der Gesetzgeber hat in den verschiedensten Rechtsgebieten zur Regelung eines geordneten Zusammenlebens Verbote aufgestellt. Beispiele hierfür sind: Strafrechtliche Verbote nach dem Strafgesetzbuch, Verbote im Straßenverkehr nach dem Straßenverkehrsgesetz und der Straßenverkehrsordnung, Umweltbelastungsverbote, baupolizeiliche Verbote nach der Landesbauordnung, lebensmittelrechtliche Verbote, Einfuhr- und Erwerbsverbote nach dem Betäubungsmittelgesetz usw. usw. … Diese Verbote könnten ihre beabsichtigte Wirkung aber nicht entfalten, wenn es den Beteiligten im Rechtsverkehr uneingeschränkt möglich wäre, auf dem Gebiet des Privatrechtes wirksame Rechtsgeschäfte abzuschließen, die auf die Vornahme von verbotenen Handlungen gerichtet sind. Es würden sonst nämlich rechtsgeschäftliche Verpflichtungen des Einzelnen begründet, gegen gesetzliche Verbote zu verstoßen. Daraus folgt die Regel, dass solchen Erfüllungsansprüchen die Wirksamkeit zu versagen ist, anderenfalls ein unerträglicher Selbstwiderspruch der Rechtsordnung einträte.

Beispiel: Vereinbarte der rauschgiftabhängige A mit dem Dealer D, dass dieser ihm aus Amsterdam 100 Gramm Heroin mitbringen solle, so wäre – wenn diese Vereinbarung wirksam wäre – der D gegenüber dem A verpflichtet, eine Handlung vorzunehmen, durch die er sich strafbar machen würde. Die Einfuhr und Veräußerung von Betäubungsmitteln ist gem. § 29 BTMG (Betäubungsmittelgesetz) strafbewehrt. A müsste konsequenterweise sogar berechtigt sein, zur Durchsetzung seiner Rechte aus § 433 Abs. 1 gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, durch die der D dann mit Hilfe der Gerichte zur Vornahme strafbarer Handlungen gezwungen würde. Klage, Urteil und dann Zwangsvollstreckung mit staatlicher Hilfe – absurd!

Aus diesen Gründen bestimmt § 134, dass
ein Rechtsgeschäft,
das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, grundsätzlich nichtig ist.
Die Vorschrift enthält allerdings die wichtige Einschränkung:
„… wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.“
Damit ist gemeint, dass das Rechtsgeschäft entgegen dem eben entwickelten Gedanken trotz Verstoßes gegen ein Verbot doch wirksam ist, wenn sich dies aus dem Verbots-„Gesetz“ ergibt. Damit fällt die Entscheidung über die Nichtigkeit nicht in § 134, sondern in dem Verbotsgesetz. Durch dessen Auslegung ist zu entscheiden (Sinn und Zweck!), ob neben der angeordneten Sanktion Buße oder Strafe auch die privatrechtliche Nichtigkeit eintreten soll.
Ob diese Rechtsfolge – also die Wirksamkeit der Vereinbarung trotz Verstoßes gegen das Verbot – von dem das Verbot enthaltenden Gesetz gewollt ist, ergibt sich allerdings in den seltensten Fällen ausdrücklich aus dessen Wortlaut. Es muss vielmehr für die einzelnen gesetzlichen Verbote ermittelt werden, ob deren Sinn und Zweck eine Nichtigkeit von privatrechtlichen Vereinbarungen erfordert, die gegen das Verbot gerichtet sind.
Diese Abgrenzung kann sehr schwierig sein und hat für die verschiedenen, zumeist schon sehr lange bestehenden gesetzlichen Verbote in der Rechtsprechung zu einer umfangreichen Kasuistik, d.h. nach vielen Einzelfällen ausgerichteten Anzahl von Entscheidungen geführt. Dabei haben sich folgende Grundsätze als inzwischen gefestigte Rechtsprechung herausgebildet:

● Das Verbot richtet sich gegen die Umstände des Rechtsgeschäfts
Handelt es sich bei dem Verbot lediglich um eine sogenannte Ordnungsvorschrift, so ist das gegen diese Bestimmung gerichtete Rechtsgeschäft regelmäßig wirksam.

Unter einer Ordnungsvorschrift ist in diesem Zusammenhang ein Verbot zu verstehen, das sich nicht gegen den Inhalt des Geschäftes, sondern gegen die Umstände seines Zustandekommens richtet.

Beispiel: An einem Montag ruft der Kunde K den Phonohändler H um 23.30 Uhr in dessen Geschäft an und einigt sich mit ihm über den Erwerb eines bestimmten Fernsehgerätes. Kann K später die Lieferung des Gerätes verlangen?

Hier liegt ein Verstoß gegen das Ladenschlussgesetz vor, das – jedenfalls derzeit noch – den Abschluss von Ladengeschäften nachts regelmäßig verbietet.
Dieses Gesetz will nicht den Rechtserfolg, nämlich den Verkauf von Sachen an sich verbieten, sondern lediglich – und zwar zum Schutze der Mitarbeiter des Händlers – verhindern, dass dies außerhalb der Ladenöffnungszeiten geschieht. Es liegt mithin eine bloße Ordnungsvorschrift vor, weswegen ein Verstoß nicht zur Nichtigkeit des Vertrags führt. K kann daher die Lieferung des Gerätes aus § 433 Abs. 1 verlangen.

● Das Verbot richtet sich gegen den Inhalt des Rechtsgeschäfts
Handelt es sich demgegenüber um ein Verbot, das sich gegen den Inhalt des Geschäftes richtet – soll also der Rechtserfolg verhindert werden –, so ist weiter zu unterscheiden:
Ist das Verbot gegen beide Geschäftspartner gerichtet, so tritt regelmäßig Nichtigkeit ein.
Im obigen Dealer-Beispiel verstößt die Vereinbarung gegen § 29 BTMG. Diese Bestimmung verbietet u.a. die Veräußerung und den Erwerb von Betäubungsmitteln wie Heroin. Es liegt damit ein Verbot vor, das sich gegen den Inhalt des Geschäftes richtet. Weiter betrifft es sowohl den Verkäufer wie den Käufer. Aus diesem Grunde ist das Geschäft gem. § 134 nichtig, so dass G kein Anspruch auf Lieferung des Heroins aus § 433 Abs. 1 zusteht.
Ist das Verbot lediglich gegen einen der Vertragspartner gerichtet, so ist das Rechtsgeschäft grundsätzlich wirksam.
Bei den Verkaufsverhandlungen behauptet der Verkäufer V wahrheitswidrig, das angebotene Bild sei ein echter, handsignierter Farbdruck von Chagall. Tatsächlich handelt es sich – was V auch weiß – um eine Fälschung. K kauft das Bild. Ist ein Vertrag wirksam zustande gekommen?
Hier liegt in dem Verkauf des Bildes von V an K ein Betrug (§ 263 StGB) vor. Es handelt sich dabei um ein Verbotsgesetz, das gegen den Inhalt des Geschäftes (Verkauf unter Täuschung des Käufers) gerichtet ist. Dennoch ist das Geschäft nicht nichtig, weil sich das Verbot nur gegen den Verkäufer und nicht auch gegen den Käufer richtet. Dass das Ergebnis so richtig ist, beweisen auch die §§ 123, 142: Der Käufer hat die Möglichkeit, sich von dem zunächst wirksamen Vertrag durch Anfechtung wieder zu lösen – was er tun kann, aber nicht tun muss.

Mehr als diese knappe Systematik, deren Anwendung im Einzelfall immer noch erhebliche Auslegungsprobleme enthalten kann (wann richtet sich ein Verbot z.B. nur gegen einen Vertragspartner?), soll hier nicht vermittelt werden. Wenn Sie Appetit bekommen haben, nehmen Sie den „grauen Dicken“ (Palandt) zur Hand und fangen Sie an zu stöbern zu § 134!

Speziell zur Schwarzarbeit: Wegen der weitreichenden Bedeutung in der Praxis soll noch kurz auf die höchstrichterliche Rechtsprechung zu dem Problem der Schwarzarbeit eingegangen werden, bei der der Bundesgerichtshof die oben in Grundrissen skizzierte Systematik noch durch das zusätzliche Kriterium der Kenntnis weiter unterteilt hat.
Schwarzarbeit ist das Erbringen von Arbeitsleistungen u.a. dann, wenn eine durch § 14 der Gewerbeordnung vorgesehene Anzeige vor Beginn eines sog. stehenden Gewerbes bei der zuständigen Behörde nicht abgegeben worden ist und aus der Tätigkeit wirtschaftliche Vorteile in erheblichem Umfange gezogen werden (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Schwarzarbeit). Der Bundesgerichtshof hat in seiner grundlegenden und lesenswerten Entscheidung (BGHZ 85, 39, 43) die Abgrenzungskriterien zu § 134 aufgegriffen und entschieden, dass Verträge, die gegen das Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit verstoßen, grundsätzlich gem. § 134 nichtig seien. Diese Entscheidung stellt insbesondere darauf ab, dass sich das Verbotsgesetz gegen beide Vertragspartner richtet: In § 2 des Gesetzes ist nämlich auch die Beauftragung mit Schwarzarbeit verboten, und, wie die Verrichtung von Schwarzarbeit selbst, sogar als Ordnungswidrigkeit mit der Verhängung von erheblichem Bußgeld bedroht.
In einer späteren, in der Literatur umstrittenen Entscheidung (BGHZ 89, 369, 373) hat der BGH dann einschränkend entschieden, dass die Nichtigkeit nicht eintrete, wenn der Auftraggeber nicht gewusst habe, dass die Arbeit als Schwarzarbeit durchgeführt werde. Nur so könne den berechtigten Belangen des Auftraggebers, den der Gesetzgeber u.a. habe schützen wollen, hinreichend Rechnung getragen werden. Diese Begründung zielt auf eine gerade für den Fall der Schwarzarbeit überaus wichtige rechtliche Konsequenz aus der Entscheidung über die Wirksamkeit oder Nichtigkeit des Vertrages: Der Auftraggeber hat nämlich nur dann einen Anspruch z.B. auf Beseitigung von etwaigen Mängeln und Schäden an einem errichteten Gebäude (sog. Gewährleistungsansprüche), wenn der zugrunde liegende (Werk-)Vertrag wirksam ist.

Beispiel: Schneidet die in einem Friseursalon angestellte Friseuse Emma Schmitz nach Feierabend regelmäßig bei sich zu Hause gegen Entgelt den Nachbarinnen der näheren Umgebung die Haare, so kommen zwischen ihr und den Kundinnen keine wirksamen Verträge (§ 631)zustande. Es liegt nämlich ein – hier ohne nähere Begründung zu unterstellender – Verstoß gegen das Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit vor, was die Kundinnen – zumindest in einer hierfür ausreichenden „Parallelwertung in der Laiensphäre“ – wussten. Letzteres ergibt sich aus den Umständen: Arbeit außerhalb des Friseursalons und nach Feierabend. Fühlt sich die „Kundin“ Gräfin Billa v. Chor am Weiler nach dem Schnitt völlig verunstaltet, so stehen ihr jedenfalls keine vertraglichen Gewährleistungsansprüche zu, da der Werkvertrag gem. § 134 nichtig ist.
Hat dagegen der Bauherr Jupp Schmitz nicht gewusst, dass die Maurerkolonne „schwarz“ arbeitet, bleibt der Vertrag wirksam und mögliche Gewährleistungsansprüche ihm erhalten.
● Zum Umfang der Nichtigkeit
Ergibt die Auslegung des Verbotsgesetzes, dass das Rechtsgeschäft gem. § 134 nichtig ist, so erfasst diese Nichtigkeit aufgrund des Abstraktionsprinzips regelmäßig nur das Verpflichtungs- und nicht auch das Verfügungsgeschäft. Dies bedeutet, dass eine Verfügung, die aufgrund eines gesetzwidrigen und damit nichtigen Rechtsgeschäftes vorgenommen worden ist, wirksam ist. Der Verfügende hat jedoch regelmäßig aus § 812 Abs. 1 S. 1 einen Bereicherungsanspruch, weil die Verfügung ohne Rechtsgrund vorgenommen worden ist.

Zu 2. Der Verstoß gegen die guten Sitten (§ 138 BGB)
● Der Fall des § 138 Abs. 1 BGB
Ein Rechtsgeschäft ist nach dem Wortlaut des § 138 Abs. 1 nichtig, wenn es „gegen die guten Sitten verstößt“.
Diese knappe Formulierung des Gesetzes lässt zwar erkennen, welcher Art von Rechtsgeschäften die Wirksamkeit verwehrt werden soll, ein brauchbares Abgrenzungskriterium stellt sie jedoch nicht dar. Schon das Reichsgericht hat sich um eine Definition des unbestimmten Rechtsbegriffes „gute Sitten“ bemüht und dabei den Grundsatz entwickelt, ein Rechtsgeschäft sei wegen Sittenwidrigkeit nichtig, wenn es gegen das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ verstoße (z.B. RGZ 80, 219, 221 – eine auch wegen ihres noch heute aktuell erscheinenden Sachverhaltes lesenswerte Entscheidung). Der BGH hat diese Definition übernommen (z.B. BGHZ 10, 228, 232). Auch sie bedarf näherer Erläuterung, wobei hier eine kurze Erörterung der wesentlichen Grundsätze genügen soll, während Ihnen zur Vertiefung die umfangreichen Darstellungen im „Palandt“ zu § 138 zur Verfügung stehen.

Die vorstehende Definition besagt zunächst, dass ein an den allgemein in der Bevölkerung vertretenen Anschauungen orientierter Maßstab über das sittlich zu Verwerfende zugrunde zu legen ist. Damit sind extreme, völlig aus dem Rahmen des Üblichen fallende Anschauungen Einzelner außer Betracht zu lassen. Weiter ergibt sich aus dieser Definition, dass die Beurteilung, ob ein Rechtsgeschäft sittenwidrig ist, im Laufe der Zeit dem Wandel der Anschauungen über sittliche Werte in der Gesellschaft unterliegt. Dies wird besonders deutlich im Zusammenhang mit der eventuellen Sittenwidrigkeit geschlechtlicher Beziehungen, gilt aber auch für andere Bereiche.

Während das Amtsgericht Emden (NJW 75, 1363, 1364) einen Beherbergungsvertrag mit zwei Verlobten über ein Doppelzimmer auf Borkum mit der Begründung für sittenwidrig erklärt hat, die Gäste seien nicht miteinander verheiratet, führt der BGH in seiner Entscheidung (NJW 85, 130, 131) aus, es lasse sich „eine allgemeine gültige Auffassung, wonach das Zusammenleben unverheirateter Personen gleichen
oder verschiedenen Geschlechts zu zweit in einer eheähnlichen Gemeinschaft oder zu mehreren in einer Wohngemeinschaft sittlich anstößig sei, heute nicht mehr feststellen.“ Oder schauen Sie doch mal in das neue Prostitutionsgesetz, das mit der jahrtausendalten Sittenwidrigkeit des sog. „Dirnenvertrages“ endgültig aufräumt. Der „älteste“ Vertrag der Welt im „ältesten“ Gewerbe der Welt ist jetzt gem. § 1 ProstG wirksam.

Vom Schutzzweck des § 138 Abs. 1 her gesehen lassen sich zwei Fallgruppen unterscheiden:
Fallgruppe 1: Zum einen kann die Sittenwidrigkeit in einer nicht zu billigenden Handlungsweise gerade gegenüber dem Geschäftspartner zu sehen sein.
Fallgruppe 2: Zum anderen können aber auch die Handlungen beider Geschäftspartner sittenwidrig sein, wenn die Interessen der Allgemeinheit oder Dritter in unzumutbarer Weise verletzt werden.

Zur Fallgruppe 1 gehören insbesondere die Fälle des Missbrauchs einer Macht- oder Monopolstellung, um dem anderen Teil unangemessene Vertragsbedingungen aufzuzwingen. Dies geschieht häufig durch sog. Knebelungsverträge, bei denen der Vertragspartner unangemessen in seiner Dispositionsfreiheit beschränkt wird.

Beispiel: Die Brauerei B-AG gewährt dem Gastwirt G zur Einrichtung einer neuen Gaststätte ein verzinsliches Darlehen über 100.000 €. Als Gegenleistung verpflichtet sich G, 25 Jahre lang mindestens 500 hl Pils oder Kölsch jährlich von der B-AG abzunehmen und kein Bier einer anderen Brauerei in seiner Gaststätte auszuschenken. Wirksam?

Wegen der langen Laufzeit wird der Gastwirt durch den Vertrag in seiner wirtschaftlichen Handlungsfreiheit in einer Weise eingeschränkt, die das Übliche in dieser Geschäftsbranche weit überschreitet. So kann G ein günstigeres Bierangebot auf dem Markt während der gesamten Laufzeit von 25 Jahren nicht wahrnehmen und muss zudem noch die Mindestabnahmepflicht erfüllen. Eine solche Verpflichtung kann für einen kürzeren Zeitraum an sich zwar durchaus eine angemessene Gegenleistung für ein (in solchen Fällen meist besonders günstiges) Darlehen sein. Das gilt aber nicht mehr, wenn die Laufzeit übermäßig weit ausgedehnt wird. Denn der Gastwirt kann die wirtschaftliche Entwicklung der Gaststätte für einen so langen Zeitraum nicht abschätzen und wird daher durch den Vertrag in eine unzumutbare Abhängigkeit gebracht, die auch durch besonders günstige Darlehenskonditionen nicht aufgewogen wird. Nach der umfangreichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu diesen sog. Bierlieferungsverträgen (vgl. z.B. BGH NJW 85, 2693, 2695) ist deswegen ein solcher Vertrag mit einer Bezugsbindung über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren in aller Regel sittenwidrig und daher gem. § 138 Abs. 1 nichtig.
Bei einem so langen Zeitraum ist es nicht erforderlich, dass neben der Dauer auch noch weitere Kriterien auf eine nicht hinnehmbare Ausnutzung der wirtschaftlichen Übermacht des Vertragspartners hindeuten. Bei kürzerer Laufzeit wäre das demgegenüber anders: Es müssten dann alle weiteren Umstände des Einzelfalles zur Begutachtung herangezogen werden. Dabei können in derartigen Fällen z.B. in Frage kommen: Die Festlegung der Mindestabnahmemenge im Verhältnis zu dem zu erwartenden Umsatz, die Bedingungen für die Rückzahlung des Darlehens, die Zinshöhe und der Grad der Unerfahrenheit des Gastwirtes.
Eine solche Gesamtsicht aller Umstände, wie sie soeben im obigen Beispielsfall angesprochen wurde, ist in nahezu allen Fällen der Prüfung des § 138 anzustellen. Da diese jedoch in der täglichen Praxis nur sehr selten erforderlich wird, soll hier nicht weiter auf diese Problematik eingegangen werden.
Hingewiesen sei aus der ersten Fallgruppe noch auf die sog. Ratenkreditverträge, die nicht selten wegen Überteuerung als sittenwidrig anzusehen sind. Dabei handelt es sich um Kreditverträge, bei denen sich der Darlehensnehmer als Gegenleistung zu dem erhaltenen Kapital dazu verpflichtet, während eines festliegenden Zeitraumes monatlich eine bestimmte Summe zu erbringen („48 Monate lang 399 €“). In diesem Betrag sind Kapitalrückführung und Zinsen enthalten. Da die Höhe der Zinsen aus jenem Betrag ohne komplizierte mathematische Berechnung nicht zu ersehen ist, bietet dieser Kredittyp den Anbietern die Gelegenheit, unter Ausnutzung ihrer wirtschaftlichen Übermacht im Verhältnis zu dem Kreditnehmer für diesen wirtschaftlich besonders ungünstige Verträge abzuschließen. Näheres zu den Voraussetzungen, unter denen bei derartigen Verträgen Sittenwidrigkeit anzunehmen ist, sowie zur Methode der Berechnung der Zinsen, jeweils mit Hinweisen auf die umfangreiche Rechtsprechung, finden Sie im Palandt zu § 138.

Zur Fallgruppe 2 gehören die Fälle, in denen durch Vereinbarung der Beteiligten schützenswerte Vermögens- oder sonstige Interessen von Dritten oder der Allgemeinheit verletzt werden. Hierunter fällt z.B. die sog. Übersicherung von Krediten: Im Wirtschaftsleben werden Geschäftsbeziehungen regelmäßig im Vertrauen darauf aufgenommen, dass für die entstehenden Forderungen das Vermögen des Geschäftspartners als Haftungsmasse zur Verfügung steht. Verpfändet nun jemand einen Teil seines Vermögens zur Sicherheit etwa eines Kredites, so steht dieser Vermögensteil unter bestimmten Umständen (Einzelheiten dazu später) seinen übrigen Gläubigern nicht zur Verfügung. Aus diesem Grunde ist ein solches Geschäft regelmäßig sittenwidrig, wenn die gewährte Sicherheit im Verhältnis zu dem zugrunde liegenden Kredit übermäßig hoch ist (z.B. Kreditbetrag 100.000 €, verpfändetes Vermögen 2 Mio. €). Denn in solchen Fällen wird den übrigen Gläubigern ohne wirtschaftliche Notwendigkeit das haftende Vermögen entzogen.

Auch der folgende Beispielsfall gehört hier hin: Der gut verdienende A vereinbart mit seiner aus Gesundheitsgründen nicht mehr arbeitsfähigen nahezu vermögenslosen Ehefrau, von der er getrennt lebt, dass er ihr nach der bevorstehenden Scheidung einen Betrag von 100 € monatlich an Unterhalt zahlen werde. – Ist der Anspruch der Ehefrau dadurch wirksam auf 100 € beschränkt worden?

Gem. § 1585 c können Ehegatten über die Unterhaltspflicht für die Zeit nach der Scheidung Vereinbarungen treffen. Es soll ihnen damit ermöglicht werden, eine einverständliche Regelung über Art und Höhe des Unterhalts zu finden, die ihren Verhältnissen besser angepasst ist als die gesetzliche Unterhaltspflicht (siehe oben: Prinzip der Vertragsfreiheit). Nach dem Wortlaut des § 1585 c können die Eheleute also auch einen Vertrag wie im Beispielsfall schließen. Dies ginge jedoch zu Lasten der Verwandten der Ehefrau oder des Trägers der Sozialhilfe, weil diese dann anstelle des nach dem Gesetz an sich verpflichteten Ehemannes der bedürftigen Ehefrau aufgrund des § 1601 ff. bzw. der einschlägigen Bestimmungen des Sozialgesetzbuches Unterhalt zu leisten hätten.
Aus diesem Grunde kann nach der Rechtsprechung des BGH eine Unterhaltsvereinbarung, durch die „bewusst die Unterstützungsbedürftigkeit eines geschiedenen
Ehegatten zu Lasten der Sozialhilfe herbeigeführt wird“ den guten Sitten zuwider laufen und damit nichtig sein (vgl. BGHZ 86, 82, 88).
Diese Rechtsfolge tritt allerdings nicht immer ein, weil der Vereinbarung auch billigenswerte Motive zugrunde liegen können. Es ist daher – entsprechend den Ausführungen zur Fallgruppe 1 – „auf den aus der Zusammenfassung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu entnehmenden Gesamtcharakter“ der Vereinbarung abzustellen.
Im Zusammenhang mit dem letzten Beispielsfall, insbesondere den Ausführungen am Ende, ist noch auf folgenden wichtigen Grundsatz hinzuweisen: In all solchen Fällen, in denen erst die „Zusammenschau aller Umstände“ das Unwerturteil ergibt, tritt die Nichtigkeit nur ein, wenn derjenige, dessen Verhalten zu missbilligen ist, diese Umstände auch kannte. Im letzten Beispielsfall muss der Ehemann also gewusst haben, dass seine Ehefrau kein Vermögen mehr hat und nicht mehr arbeitsfähig ist.
Ein (weiteres) Beispiel für die sittenwidrige Schädigung nicht der Allgemeinheit, wohl aber eines Dritten liegt vor, wenn die Mannschaftskapitäne der Fußballvereine Vorwärts 04 und TUS 09 vereinbaren, im bevorstehenden Meisterschaftsspiel 0:0 gegeneinander zu spielen, um so ein Vorwärtskommen des Konkurrenzvereins VfL Eintracht in der Tabelle zu verhindern.

● Der Fall des § 138 Abs. 2 BGB
Im § 138 Abs. 2 hat der Gesetzgeber eine weitere Fallgruppe der sittenwidrigen Rechtsgeschäfte, nämlich den sog. „Wucher“, besonders geregelt.
Trotz dieser ausdrücklichen gesetzlichen Regelung handelt es sich bei dem Wucher lediglich um einen Beispielsfall für den in § 138 Abs. 1 niedergelegten allgemeinen Grundsatz, was an der Eingangsformulierung „Nichtig ist insbesondere …“ deutlich wird. Aus diesem Grunde kann ein Rechtsgeschäft, das nicht alle Tatbestandsvoraussetzungen des in Betracht kommenden § 138 Abs. 2 erfüllt, durchaus trotzdem gem. § 138 Abs. 1 wegen Sittenwidrigkeit nichtig sein.
Dies mag an folgendem Fall erläutert werden, in dem Sie auch die Tatbestandsmerkmale kennen lernen werden.
Beispiel: Der abenteuerlustige 20-jährige A aus einer niederbayerischen Kleinstadt gerät an einem Wochenende in Hamburg-St. Pauli in ein Animierlokal. Während sich die dortigen „Damen“ um ihn „kümmern“, bestellt A, ohne sich für die angegebenen Preise zu interessieren, 4 Flaschen Champagner. Später weigert er sich, die Rechnung der „Lola“ von insgesamt 3.160 € für die Getränke zu bezahlen. Mit Recht?

Anspruchsgrundlage der „Lola“: § 433 Abs. 2, klar.
Der Vertrag über den Verkauf des Champagner für 790 € pro Flasche könnte aber gem. § 138 Abs. 2 als wucherisch und damit sittenwidrig anzusehen sein. Der Preis steht – jedenfalls bei der aus den Umständen zu unterstellenden schlichten Qualität des Getränkes – in einem „auffälligen Missverhältnis“ zu der von dem Betriebsinhaber erbrachten Leistung. Weiter müssten eine Zwangslage, die Unerfahrenheit, ein Mangel an Urteilsvermögen oder eine erhebliche Willensschwäche des A ausgebeutet worden sein.
In Betracht kommen insoweit die Ausnutzung der Unerfahrenheit und einer erheblichen Willensschwäche des A. Zur Unerfahrenheit würde es ausreichen, wenn ein ausführlicherer Sachverhalt ergäbe, dass A aufgrund seines jugendlichen Alters und seiner bisherigen Lebenserfahrung nicht damit rechnen konnte, dass für das Getränk solche Preise verlangt würden. Für die Ausnutzung einer erheblichen Willensschwäche wäre Voraussetzung, dass A zwar Inhalt und Folgen des Rechtsgeschäftes durchschaut hat, sich aber wegen einer verminderten psychischen Widerstandsfähigkeit – etwa infolge der Anfechtungen durch die dargebotenen weiblichen Reize – nicht sachgerecht zu verhalten vermochte.
Ergibt die Prüfung, dass keines dieser Merkmale bejaht werden kann, so ist noch zu untersuchen, ob nicht die Vertragsbeziehungen gegen das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ verstoßen und deswegen gem. § 138 Abs. 1 nichtig sind.
Das ist hier ohne weiteres zu bejahen, weil es mit dem allgemeinen Anstandsgefühl nicht zu vereinbaren ist, ein besonders hohes Entgelt für Getränke in einem Animierlokal deswegen zu fordern, weil die Gäste sich mit den vom Betriebsinhaber bereitgestellten Animierdamen betätigen können.

● Zur Wirkung des Sittenverstoßes
Bei vorliegender Sittenwidrigkeit ist das Rechtsgeschäft nichtig (§ 138 Abs. 1). Die Nichtigkeit erfasst jedoch auch hier grundsätzlich nur das Verpflichtungsgeschäft und nicht auch das aufgrund des Abstraktionsprinzipes hiervon zu trennende Verfügungsgeschäft, weil die in der Verfügung liegende Änderung der Güterzuordnung regelmäßig an sich wertneutral ist. So ist z.B. im obigen Fall der überlangen Bierbezugsverpflichtung die Übereignung des Kreditbetrages wirksam, weil sie lediglich die Eigentumslage an dem Geld ändert, was für sich genommen mit dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden nicht unvereinbar ist. Etwas anders gilt allerdings dann, wenn die Sittenwidrigkeit gerade in dem dinglichen Verfügungsgeschäft zum Ausdruck kommt. Ein Beispiel hierfür bildet der oben angesprochene Fall der Übersicherung: Gerade die dingliche Verfügung über den Vermögensteil schädigt die Gläubiger, weil sie auf diese Weise nicht ihrerseits darauf zurückgreifen können. Deswegen erfasst die Nichtigkeit in solchen Fällen auch das Verfügungsgeschäft.
Bei vorliegendem Wucher (§ 138 Abs. 2) sind beide Rechtsgeschäfte nichtig, da das Gesetz es so will: „… versprechen (Verpflichtungsgeschäft) oder gewähren (Verfügungsgeschäft) …“.

Beitrag: 58 Wie Jura ins Gedächtnis kommt? – Teil I: Die Lern-Technik der assoziativen Verbindung

Sie müssen das, was Sie an Informationen über Ihren Lernkanal „Vorlesungs-Ohr“ und Ihren Lernkanal „Lehrbuch-Auge“ aufnehmen, so schnell wie möglich in Ihr Gedächtnis transportieren und in Ihrem „Jura-Langzeitgedächtnis“ so dauerhaft wie möglich derart verankern, dass es Ihnen im entscheidenden Moment der Klausur jederzeit einsprungbereit und abrufbar zur Verfügung steht. „Fix“ (dauerhaft) und „fertig“ (abrufbereit) muss Jura in Ihr Gedächtnis! „Schön und gut! Aber wie setze ich diese Alltagsweisheit am besten um?“

Durch erstens „assoziative Verbindungen“ (Teil I) und zweitens „Entkomplizierung des Komplizierten“ (Teil II) im nächsten Blog.

Zunächst also zur Assoziationstechnik. Das wichtigste Kapital des Jurastudenten ist sein Erinnerungsvermögen! Der Kampf ums Lernen ist immer gleichzeitig ein Kampf ums Speichern von „Etwas“. Und ein Kampf gegen das Vergessen. Und damit ein Kampf für das Erinnerungsvermögen! Da juristische Kenntnisse und Fähigkeiten beim Menschen nun einmal nicht vererbt werden, muss das juristische Wissen und Können in jedem Studentenleben neu erworben, das heißt, gelernt werden.
Zur effektiven Speicherung von juristischen Informationen haben Sie als Student neben Ihren externen Speichern der Gesetzestexte im „Schönfelder“, des Wissens in Büchern, Kommentaren, Ihren Mitschriften und hoffentlich Ihrem „eigenen Skript“ – wie jeder andere Organismus auch – zwei interne Informationsspeicher, nämlich Ihr Genom und Ihr Gedächtnis. Ihr Genom können wir hier vernachlässigen, es ist angeboren und verkörpert die Ihnen durch Vererbung mitgegebenen Informationen: Dazu gehört Jura sicher nicht! Ihr Gedächtnis dagegen entsteht im Laufe Ihrer Individualgeschichte. Es ist Ihr Erinnerungsvermögen, Ihr ganz spezielles Denken an früher Geschehenes, Erlerntes und gemachte Erfahrungen in Ihrem Leben: Man spricht von – Lernen. Beim Menschen gibt es Lernen durch das Anhäufen eigener Erkenntnisse und durch die Übernahme fremder Erkenntnisse: Dazu gehört nun Jura sehr wohl! Die Frage ist nur: Wie gelangen die für den Jurastudenten wichtigen Mitteilungen in sein Gedächtnis? – Einfache Antwort: Durch Sammeln!

Jurastudenten sind Gedankensammler! Schon das „Lesen“, diese Uraktivität des Studenten, ist eine Art Sammeln. Beide Wörter, „Lesen“ und „Sammeln“ bedeuteten ursprünglich ohnehin dasselbe, nämlich das Heraussortieren von Dingen, die es wert sind, aufbewahrt zu werden. Noch heute wird von der „Weinlese“ gesprochen. Und eine Art juristischer Weinlese ist auch das Sammeln der Gedanken eines Lehrbuches oder einer Vorlesung, die es wert sind, als geistige Früchte aufbewahrt zu werden.

Für Sie gibt es im Laufe des Jurastudiums zwei Arten von Gedankensammlungen:
 Die Gedanken, die Sie sammeln, weil Sie sie durch eigenes Nachdenken erschlossen haben.
 Die Gedanken, die Sie sammeln, weil fremde Autoritäten sie Ihnen gesagt haben.

Seit langer Zeit genießen an den juristischen Fakultäten die Gedanken der ersten Sorte ein besonders hohes Prestige. Leonardo da Vincis kühnem Satz, der die Rechtfertigung für alles freie Denken enthält, kann man sich hörbar seufzend nur anschließen: „Wer im Streite der (juristischen) Meinungen sich auf die (juristische) Autorität beruft (Palandt hier, BGH dort), der arbeitet mit seinem Gedächtnis anstatt mit seinem Verstand.“ Für einen jungen Jurastudenten ist es aber entgegen dem großen Leonardo sehr vernünftig, wenn er zunächst fremde Gedanken von Autoritäten sammelt und diese „juristische Gedankenlese“ als Jurawissen in die Kelter seines Gedächtnisses einfährt. Wobei er weiß: Das Gedächtnis darf zwar das Denken nicht ersetzen, aber ohne Gedächtnis gibt es auch kein Denken, lieber Leonardo. Machen wir uns auf die Suche nach Ihrem Gedächtnis! Denn diesen Speicher gilt es aufzufüllen, ihn zu beschicken dient Ihre ganze juristische Ausbildung.

Sie haben, wie jeder Mensch, drei Gedächtnisstufen zum Speichern. Bevor eine der wichtigen juristischen Informationen (ein Vertrag kommt zustande durch …; Notwehr setzt voraus …) in Ihrem Langzeitgedächtnis abgespeichert werden kann, trifft sie zunächst auf Ihr Ultrakurzzeitgedächtnis (UKZG). Dieser Gedächtnisteil hat nur eine einzige Funktion: Er entscheidet darüber, ob die Nachricht für Sie wichtig oder unwichtig ist. Kommt er zu dem Ergebnis „wichtig“, leitet er sie weiter an Ihr Kurzzeitgedächtnis, wo sie erneut abgeprüft wird, bevor sie an den beiden Türstehern vorbei endgültig ins Langzeitgedächtnis gelangt. Kommen Ihre Kurzzeitgedächtnisse als strenge Wächter zu dem Ergebnis „unwichtig“, dann wird die Information respektlos gelöscht, sie kommt nicht ins Langzeitgedächtnis. Die Folge ist, dass Sie sich nie mehr an diese vielleicht doch „wichtige“ Nachricht (Vertrag; Notwehr) erinnern können. Beide Kurzzeitgedächtnisse müssen von Ihnen überwunden werden, wenn Sie beim Lernen des „Zustandekommens eines Vertrages“ oder der „Notwehr“ Erfolg haben wollen.

Was kann man nun dafür tun, dass das Kurzzeitgedächtnis nichts Wichtiges wegfiltert und nicht blockiert, die Barrieren vor dem Langzeitgedächtnis überwunden werden und Jura in Ihr Gedächtnis gerät? – Die Kurzzeitgedächtnisse arbeiten unerbittlich, um als Filter und Barriere Ihr Gehirn vor einer Informationsüberflutung zu schützen. Wenn Sie jede Information, die Sie z.B. als Autofahrer benötigen, um unfallfrei zur Hochschule zu gelangen (Auto von rechts, Auto von links, Ampel auf Rot, Fußgänger von vorn) nicht sofort nach Gebrauch wieder löschen würden, wäre Ihr Gehirn mit einem Ballast nunmehr nutzloser Informationen zugemauert. Sie führen gegen den nächstbesten Baum! Das Löschen und das Rausschmeißen haben die Funktion, Ihre begrenzten Speicherkapazitäten wieder freizumachen. Ihr Kurzzeitgedächtnis (KZG) hat nämlich nur ein sehr begrenztes Fassungsvermögen.

Wahrnehmung tritt ein → Wahrnehmung gewertet als: „unwichtig“ → Wahrnehmung wird gelöscht

Das so überlebensnotwendige löschende Vergessen ist nun für Sie als lernender Jurastudent leider sehr nachteilig. Die beschränkte Aufnahmekapazität der Kurzzeitgedächtnisse drängt nämlich respektlos auch auf das Vergessen des juristisch Gelernten in der „Absicht“, durch das Rausschmeißen der Voraussetzungen des „Zustandekommens eines Vertrages“ oder der „Notwehr“ Platz zu schaffen für die „Anfechtung dieses Vertrages“ oder den „Notstand“. Sie sehen: Was Sie als Autofahrer davor bewahrt, gegen den Baum zu fahren, führt bei Ihnen als Student dazu, dass Sie gegen den Baum fahren: Der Baum heißt in unserem Zusammenhang: Misserfolg in Klausur und Examen durch Vergessen!

Das Kurzzeitgedächtnis braucht nun Zeit, um zu prüfen, ob z.B. die Ausführungen Ihres Dozenten in der Vorlesung wichtig, also weiterleitungswürdig sind, oder ob sie unterbelichtet bleiben und dem Vergessen anheim fallen sollen. Von einer festen und dauerhaften Fixierung im Langzeitgedächtnis kann während dieser Prüfungsphase keine Rede sein. Der Dozent redet ganz einfach am Gedächtnis seiner Studenten vorbei! Hüten Sie sich also vor dozentischen „Schnellfeuergewehren“, bei denen immer der nächste Satz den vorherigen auffrisst und die Ihr Kurzzeitgedächtnis total überfordern: Es bleibt nichts hängen!

Eine erste, kurze Antwort auf die Frage „Wie kommt Jura ins Gedächtnis?“ lautet also:
Die Infos müssen aus den Tiefen des Ultrakurzzeitgedächtnisses über das Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis kommen, indem sie ausgewählt, das heißt, mit aktueller Aufmerksamkeit bedacht und nicht von vornherein „weggefiltert“ werden.

Ein kleines Beispiel für die gnadenlose Selektion Ihres Kurzzeitgedächtnisses: Schauen Sie jetzt nicht auf Ihren „Schönfelderdeckel“ und beantworten Sie nur die Frage: Was steht auf dem Einbanddeckel? Haben Sie Schwierigkeiten mit der Beantwortung der Frage, obwohl Sie schon hundertmal darauf geschaut haben? Inzwischen haben Sie sicherlich nachgeschaut, wie der Einbanddeckel gestaltet ist. Noch eine Frage – wieder ohne hinzuschauen: Wie viele Farben prangen auf dem Umschlag? Möglicherweise haben Sie bei dem Blick nach der Beschriftung die Farben des Einbanddeckels nicht registriert. Eselsbrücke: „Man bemerkt nur, was einen aktuell interessiert“. Ja! Gnadenlos, dieses UKZG!!

Die große Frage ist aber: Wie geschieht das?

Erster Trick: Durch assoziatives Lernen. Es gibt juristische Infos von außen, die sind neu. Man erhält sie über die Kurzzeitgedächtnisse aus dem Hörsaal oder aus dem Lehrbuch zugespielt. Und es gibt Daten von innen, die sind alt. Diese kann man aus den Tiefen seines Langzeitgedächtnisspeichers als juristische Gedächtnisinhalte zum intuitiven Andocken für die neu eintreffenden juristischen Informationen aktualisieren und nutzen.
Sie müssen sich das so vorstellen, dass sich Ihr Denken im Zusammenspiel zweier mentaler Systeme vollzieht. Das erste agiert stets im Modus des Altbekannten, einer „inneren Stimme“, das zweite hingegen in der Arbeitsweise der Reflexion, einer „äußeren Stimme“, im Modus des Nachdenkens über das Neue. Diese beiden geistigen Systeme müssen Sie in Einklang bringen, so dass sie reibungslos wie zwei Zahnräder ineinander greifen.

Sie können viel dafür tun, dass Ihre zwei mentalen Systeme und Ihre Gedächtnisspeicher als Team optimal zusammenspielen und wichtige Informationen nicht dem „ewigen“ Vergessen anheim fallen.

Ihr juristisches Lernen ist ein kontinuierlicher Prozess. Es ist wie jedes Lernen ein Prinzip der Erzeugung immer neueren, breiteren, verbesserten und tieferen Wissens. Das ist sein Mehrwert. Sie erweitern Ihren Wissensbestand ständig, aber nicht nur durch additives Hinzufügen (das auch!), sondern vornehmlich durch einsichtsvolle, verständige, kognitive Verknüpfungen Ihres systematisch geordneten juristischen Altbestandes mit dem juristischen Neubestand. Schon Gelerntes begegnet noch Ungelerntem, durchdringt und verändert sich. Sie gehen vor wie die Evolution: Was Sie einmal als gut erkannt haben und was sich im harten Selektionsprozess der juristischen Nachrichtenaufnahme in Ihrem Gedächtnis bewährt hat, behalten Sie bei und nehmen es mit. Sie bauen darauf auf und heben das Erreichte durch mutierende Veränderung seitens Ihres Verstandes auf eine neue, bessere Systemstufe. Deshalb sind die Grundlagen im 1. Semester ja so unendlich wichtig! Das neu erworbene Wissen ist mit Hilfe Ihres Lernens der erststufige Vorläufer des zukünftigen zweitstufigen Wissens und so fort. Sie lernen nicht ziellos ein Gesangbuch auswendig oder rezitieren Schillers „Glocke“, sondern erlernen den Gutachtenstil und die Subsumtionstechnik, das Zustandekommen eines Vertrages und die Merkmale der Anfechtung, den Deliktsaufbau im StGB sowie die Tatbestandsmerkmale der Notwehr, die Grundrechte des Grundgesetzes ziel- und zweckgerichtet, also final, um diese Institute zu be„greifen“, sie als Einzelteile „greifen“ zu können, um sie Ihrer bisherigen Lernstruktur assoziativ (lat.: ad, zu; socius, Gefährte) als „Gefährten“ einzugliedern. Zu einem künftigen Zeitpunkt steht Ihnen diese Struktur „griffbereit“ für juristische Problemlösungen in Ihrer Klausur zur Verfügung. Methode, Wissen, Verstand und assoziatives Gedächtnis reichen sich in der Klausur immer die Hand.
Ich offenbare Ihnen jetzt einen Kunstgriff, der Ihr intelligentes Lernen entscheidend fördern wird: Die Lerntechnik der assoziativen Verbindung. Diese „Lern-Technik der assoziativen Verbindungen“ ist die große Chance, sich schon ganz am Anfang seines Studiums ein grundsätzliches, für das gesamte juristische Studium geltendes Lernverhalten zu erwerben. Ein wichtiges Mittel für das dauerhafte Behalten ist die Herstellung von Assoziationen. Assoziation bedeutet hier die Verknüpfung neuer juristischer Inhalte mit bereits vorhandenem Jurawissen. Zu einem neuen juristischen Bewusstseinsinhalt wird spontan ein schon vorhandener Bewusstseinsinhalt aus dem assoziierenden Gedächtnis reproduziert. Dazu müssen Sie für den neu zu lernenden Stoff Querverbindungen und Ankopplungsmöglichkeiten zu dem alten Stoff in diesem Gedächtnisteil schaffen, was wiederum nur gelingt, wenn Sie vorher klare und einfache Anknüpfungspunkte beim alten Stoff (interne Daten) für den neuen Stoff (externe Daten) entwickelt haben. Ihr Gehirn produziert aus den juristischen Informationen, die es von außen bekommt, Ihr persönliches juristisches Wissen, indem es die neuen Informationen an die bereits früher gespeicherten alten Inhalten andockt. Die neuen Infos müssen auf „gedächtnisinterne Gegenliebe“ stoßen. Sie müssen die neuen juristischen Gegenstände in Ihre eigenen Wissensstrukturen überführen.

Die Technik der „assoziativen Verbindung“ beruht auf der auch von Ihnen schon oft gemachten Alltagserfahrung, dass man sich leichter an Informationen erinnern kann, wenn sie mit bekannten Infos verknüpft sind. Dem Jura lernenden Menschen ist, wie jedem anderen Menschen auch, am Wiedererkennen gelegen. Auch er ist grundsätzlich ein kognitiver Faulenzer: Er möchte im juristisch Neuen das juristisch Alte wiederfinden und das Individuelle im Generellen. Darauf beruht die „Vertraulichkeit“, das „Heimischwerden“ im juristischen Lernen. Sie würden nur erschrecken und verwirrt sein, wenn Sie ständig immer wieder vollkommen Neues, Sensationelles, Einmaliges, Individuelles, Losgelöstes dargestellt bekämen, ohne dass sich Ihnen die Möglichkeit böte, halb Vertrautes darin wiederzuentdecken. Durch das Alte legitimiert sich das Neue, weist sich als echt, als richtig aus – als richtig im Sinne des „Wie ich es schon gelernt und verstanden habe.“ – „Wie ich es kenne.“ Für das Behalten und damit das Nichtvergessen ist es äußerst wichtig, dass die juristischen Informationen aufeinander bezogen sind, d.h., dass sie eine Netz-Struktur bekommen in einem beweglichen Netz, das Sie geknüpft haben und in das Sie immer neu einknüpfen.

Je enger nun Ihr Netzwerk mit Ankopplungsadressen geknüpft ist, desto leichter wird Ihnen das Ankopplungsmanöver gelingen. Dann fügt sich nahtlos
juristisch Neues an juristisch Altes,
Nichtwissen an Wissen,
Nichtkönnen an Können,
Ungelerntes an Gelerntes,
Unfertigkeit an Fertigkeit,
Unsystematisches an Systematisches und
Klausurerfolg an Klausurerfolg.
Diese Assoziationstechnik ermöglicht es, über die Herstellung solcher Assoziationsketten die Elemente exakt in der vorgegebenen Reihenfolge zu reproduzieren. Wird die neue juristische Wahrnehmung als wichtig erkannt und mit einer bereits vorhandenen, im Langzeitgedächtnis kreisenden juristischen Information gekoppelt (assoziiert), so ist sie verankert und erinnerbar. Das blitzschnelle Anklicken der im LZG gespeicherten Ketten fällt Ihnen umso leichter, je besser Sie darin trainiert sind.

In drei Schritten wird juristisches Wissen assoziativ gelernt: Machen Sie einfach einmal mit! Es ist ein Verhaltensprogramm, mit dessen Hilfe man die Assoziationstechnik automatisiert: Alles baut aufeinander auf und alles wird mit allem vernetzt.

Wir bleiben beim Vertrag.

 Erster Schritt: Die neue Information strömt in das Kurzzeitgedächtnis. Findet das in Ihrem Arbeitsspeicher zur Prüfung bereitliegende reflektierte externe Datum „Vertrag“ („äußere Stimme“) mangels interner Daten („innere Stimme“) Ihre aktuelle Aufmerksamkeit nicht, dann wird es von anderen Inhalten verdrängt, die neu zum Arbeitsspeicher Zugang finden, nachdem sie am Wächter „UKZG“ vorbeigesegelt sind. Der „Vertrag“ wird nicht weiter im LZG gespeichert. – Er fand hier keine interne „Gegenliebe“, er ist nach spätestens einer halben Stunde nicht mehr verfügbar – und zwar für immer. Es muss ein neues Andockmanöver gestartet werden.
Die in Ihrem Kurzzeitgedächtnis anlandende externe Vorlesungs-Information „Ein Vertrag besteht aus Angebot und Annahme“ würde also nach wenigen Sekunden der Reflexion, also des prüfenden Nachdenkens, verlöschen, wenn sie nicht sehr schnell auf eine in Ihrem assoziativen Langzeitgedächtnis kreisende interne Information stoßen würde. Der „Vertrag“ muss als Suchhinweis im KZG für etwas Folgendes im LZG den Reflex darstellen. Diese folgenden – alten – gespeicherten Informationen, die nunmehr auf den Abrufreiz „Vertrag“ intuitiv reagieren, müssten die Informationen „Rechtsgeschäft“ und „Willenserklärung“ sein. Diese Begriffe müssen als erste Elemente „fest gemauert“ im LZG verankert sein, um als Urglieder für Ihre Assoziationskette dienen zu können. Das Urglied muss immer sofort reproduzierbar sein. Im BGB beginnt die Assoziationskette „Vertrag“ mit den ersten Gliedern: „Rechtsgeschäft“ und „Willenserklärung“. Mit irgend einem Abrufadressaten muss man beginnen, da hilft Ihnen niemand!

 Zweiter Schritt: Die neue Information „Vertrag“ trifft im Arbeitsspeicher auf eine alte interne Information aus dem Langzeitgedächtnis und sucht nach „Andockstellen“.
Der Suchhinweis „Vertrag“ im KZG reizt die im LZG bereits vorhandenen Assoziationsglieder und „überlegt“ anzukoppeln:

 „Rechtsgeschäft“? – Ein Rechtsgeschäft ist ein Tatbestand aus einer oder mehreren Willenserklärungen, an den die Rechtsordnung einen bestimmten Rechtserfolg knüpft, weil er so gewollt ist. Klar!

 „Willenserklärung“? – Sie ist die Äußerung eines rechtsgeschäftlichen Willens, um eine Rechtsfolge auszulösen. Auch klar!

 Ankopplungsmanöver: Vertrag ist also ein aus zwei solchen Willenserklärungen – Angebot und Annahme ‑ bestehendes Rechtsgeschäft, das einen bestimmten Rechtserfolg herbeiführen soll.

Die neue Info („äußere Stimme“) „Vertrag“ ist auf Gegenliebe gestoßen und hat sich zu den Infos „Rechtsgeschäft“ und „Willenserklärung“ („innere Stimme“) gesellt.

 Dritter Schritt: Die neue Information V dockt fest an die alten Infos R und W an. Die neue Info begegnet den Ankerpunkten. Neue Verknüpfung: Der Vertrag ist ein Rechtsgeschäft und besteht aus zwei (oder mehr) Willenserklärungen, nämlich Angebot und Annahme, und soll einen gewollten Rechtserfolg (den die Rechtsordnung akzeptiert) herbeiführen. Nach der Verknüpfung entsteht eine Assoziationskette, in der die Erinnerung (Reproduktion) eines Elements automatisch die Erinnerung an die anderen Elemente hervorruft. Ein Teil einer Erinnerung reaktiviert die ganze Erinnerung. Eine Ausnahme ist notgedrungen das allererste Element, das deshalb naturgemäß nicht vergessen werden darf. Wenn der erste Begriff nicht reproduziert werden kann, steht er auch als interner Abrufadressat im assoziativen Gedächtnis für den zweiten, den externen Abrufreiz, nicht zur Verfügung. Also müssen das erste „Rechtsgeschäft“ und die erste „Willenserklärung“, denen Sie in Ihrem Juraleben begegnen, fest „fixiert“ werden, wahrscheinlich ist es das „Angebot“ oder die „Zustimmung“.
Immer, wenn ab jetzt das Wort „Vertrag“ bei Ihnen ankommt, läuft das Assoziationsprogramm ab. Je mehr Fortschritte Sie machen, desto mehr werden neue Tatbestandsmerkmale oder Rechtsinstitute bei Ihnen Assoziationen freisetzen, die wiederum neue Gedankenketten gebären.

Mal ist die Assoziationskette so und mal eben anders. Das Programm läuft aber immer mit derselben Technik und Taktik ab. Solche Programme wie die Stufentechnik (alles baut aufeinander auf) und die Assoziationstechnik (alles wird mit allem vernetzt) bilden ein Repertoire von Aktions- und Handlungsanweisungen, letztlich Fertigkeiten, die man sehr gut beherrschen kann und die einem im LZG dann langfristig zur Verfügung stehen.

Ein zweites Beispiel soll Ihnen genau verdeutlichen, was ich meine.

Im BGB spielt die Übertragung von Rechten immer wieder eine wichtige Rolle – etwa beim Eigentum an beweglichen (§ 929 BGB) und unbeweglichen Sachen (§§ 873 Abs. 1, 925 Abs. 1 BGB) sowie bei der Inhaberschaft von Forderungen und anderen Rechten (§§ 398, 413 BGB). Die Aufschrift über Ihrer zu bauenden „Assoziations-Kommode“ lautet also: „Übertragung von Rechten“. Nunmehr wird die erste Schublade beschriftet und beschickt: „Übereignung beweglicher Sachen (Waren)“ – mit irgendeiner Schublade muss man den Lernvorgang eben beginnen. Sie füllen diese Schublade mit den dem Text des § 929 S. 1 BGB entnommenen Strukturelementen:
 Einigung (Willensmoment)
 Übergabe (Vollzugsmoment)
 Einigsein zum Zeitpunkt der Übergabe
 Berechtigung, d.h. der Übereignende muss verfügungsbefugter Eigentümer sein

§ 929 S. 1 BGB ist ab jetzt Ihr Abrufadressat für die nachfolgenden Abrufreize Ihrer Assoziationsketten. § 929 S. 1 BGB muss deshalb sitzen! (Weswegen der Dozent in der Vorlesung ja so entscheidenden Wert darauf legen muss.)

Gelangen Sie im Stoff nunmehr zu den neuen externen Abrufreiz-Informationen der §§ 873, 925 BGB, also zu der Übereignung einer unbeweglichen Sache, so fahnden Sie in Ihrem Langzeitgedächtnis nach internen Abrufadressaten, nämlich nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu den alten Informationen. Sie stoßen auf die Kommode „Übertragung von Rechten“, öffnen die erste Schublade „Übereignung beweglicher Sachen gem. § 929 S. 1 BGB“ und nehmen die Einzelteile in die Hand, legen sie also auf Ihren Arbeitsspeicher. Nach kürzester Zeit haben Sie dem Gesetzestext des § 873 Abs. 1 BGB Ankoppelungsmöglichkeiten in Form der Gemeinsamkeiten des Willensmomentes (Einigung), des Einigseins und der Berechtigung entnommen und in Form der Unterschiede, nämlich beim Vollzugsmoment statt „Übergabe“ „Eintragung“ im Grundbuch und das zusätzliche Erfordernis der Einigung vor einem Notar, § 925 BGB (nennt man übrigens „Auflassung“), entdeckt. Jetzt können Sie die zweite Schublade beschriften: „Übereignung einer unbeweglichen Sache“. Sie füllen diese Schublade mit den dem Text der §§ 873 Abs. 1, 925 BGB entnommenen Bausteinen:
 Einigung in Form der Auflassung
 Eintragung im Grundbuch
 Einigsein (vgl. § 873 Abs. 2)
 Berechtigung, d.h. verfügungsbefugter Eigentümer

Haben Sie es bemerkt? Sie haben sich Querverbindungen und Ankopplungen geschaffen, die viel besser im LZG haften als Einzelvermittlungen. Schnell haben Sie dann auch den entsprechenden Baukasten Ihrer Kommode „Übertragung von Rechten“ auf ein Papier skizziert, der die Parallelen und Unterschiede verdeutlicht:

Wer im juristischen abstrakten Denken schon weit genug ist, kann die gemeinsamen, von den konkreten TBM des § 929 und § 873 BGB abgezogenen Abstrakta ausfällen, nämlich: Willensmoment  Vollzugsmoment  Deckung der beiden Willens- und Vollzugsmomente  Berechtigung.

Kommen Sie nunmehr im Laufe Ihres weiteren Lernens zu § 398 S. 1 BGB, also der externen Information „Übereignung einer Forderung“, die man traditionell nun einmal „Übertragung einer Forderung“ nennt (eben: juristisches Fachvokabular), so koppeln Sie wiederum an intern Bekanntes an.
Sie beschriften die dritte Schublade: „Übertragung von Forderungen“ Ihrer Kommode „Übertragung von Rechten“. Das ist Ihr Suchhinweis. Dann kramen Sie zunächst in Ihren vertrauten abgespeicherten Schubladen zu § 929 BGB und §§ 873 I, 925 BGB im LZG und zerlegen jetzt § 398 S. 1 BGB in seine Tatbestandselemente. Mit einem kleinen Scherz: „Der Gesetzgeber lässt aber auch keine Chance aus, die Studenten zu verwirren“, deuten Sie das Wort „Vertrag“ in „Einigung“ um und schon schaffen Sie sich die Querverbindungen und Ankoppelungsmöglichkeiten. Sie machen sich klar, dass es bei Forderungen als vergeistigten abstrakten Gebilden kein Vollzugsmoment in Form einer Übergabe geben kann, und der Gesetzgeber Gott sei Dank auf ein „Forderungsbuch“ (analog Grundbuch) verzichtet hat und stellen weiter fest, dass das Merkmal „Berechtigung“ im Wort „Gläubiger“ versteckt ist. Ihre detektivische Suche hatte Erfolg. Die neue Information „Übertragung von Forderungen“ trifft auf die alten Schubladen-Informationen der §§ 929, 873 Abs. 1, 925 BGB im LZG. Es bildet sich eine Assoziationskette, in der die Erinnerung an Schublade 1: § 929 BGB die Erinnerung an Schublade 2: §§ 873 Abs. 1, 925 BGB und dann die Erinnerung an Schublade 3: § 398 BGB hervorruft.
Sie füllen die dritte Schublade auf mit den Tatbestandselementen des § 398 S. 1 BGB:
 Einigung (Vertrag)
 Berechtigung (Gläubiger)

Sie werden die Assoziationskette mit den Gliedern 1, 2 und 3 oder die Kommode mit den Schubladen 1, 2 und 3 nie mehr vergessen – sie stehen unverrückbar in Ihrem LZG.

Jetzt stellen die einzelnen gesetzlichen Bauelemente der „Übertragung von Rechten“ in den §§ 929, 873 I, 925, 398 S. 1 BGB keine ungeordnete Menge von Einzelmerkmalen mehr dar, wie die 999.999 Teile im ungeordneten Supermarkt. Sie sind vielmehr ein aufeinander bezogenes Assoziationssystem mit Aufschriften, wie die einzelnen Glieder oder Schubladen miteinander verbunden sind. Sie haben bald eine Art Kommodenplan im Kopf, wo etwas aufbewahrt ist und aufgefunden werden kann. Kommt nun neues externes Wissen hinzu (z.B. gibt es bei der Übertragung von Rechten und Forderungen ein letztes Merkmal, nämlich das „Nichtvorliegen von Abtretungsverboten“, vgl. § 399 BGB), so legen Sie dieses Merkmal nicht irgendwo unsystematisch ab, sondern betten die neue Information in Ihren vorhandenen Speicherschrank.
 Also: Kommode „Übertragung von Rechten“ (s. §§ 929; 873 Abs. 1, 925; 398) anklicken!
 Hier: „Übertragung von Forderungen“. Schublade 3 öffnen!
 Neue Info: „kein Abtretungsverbot (s. § 399)“!
 Schublade 3 beschicken: „kein Abtretungsverbot!!“
 Neuer Inhalt Schublade 3: „Einigung – Berechtigung – kein Abtretungsverbot“
 Schublade schließen!
 Fixiert!

Das Assoziations-Modell „Übertragung von Rechten“ können Sie getrost auf sämtliche Rechtsfiguren „übertragen“. Es funktioniert immer!

Die Kenntnis der „verknüpfenden“ Ordnung der gesetzlichen Gesamt- und Einzelbaupläne mit ihren Tatbestands-Bauelementen, die nie einzeln stehen, sondern immer in funktionelle Wechselabhängigkeiten treten, sich vernetzen, ankoppeln oder andocken, muss Ihnen zwangsläufig die entscheidenden Vorteile in Ihrem Lernen bringen. Und wird, wie zu erwarten, die Verflechtung dieser Bauplan-Wechselwirkungen, der Assoziationsketten und Kommodensysteme sehr umfangreich, dann wird auch die Aussicht auf Entflechtung ohne Kenntnis des flechtenden Netzwerkes, des Kommodengesamtplans, verschwindend gering.
Mit dieser Assoziationstechnik bauen Sie sich nach und nach ein in Ihrem Kopf verdrahtetes, schon bald perfektes Expertenwissen auf. Die Gedanken Ihrer in dieser Technik nicht geübten Kommilitonen verheddern sich dagegen in unzähligen (999.999) Einzelschritten. Sie aber jonglieren mit vorgefertigten „Rechtsinstitutspaketen“, „Tatbestandskommoden“, Paragraphenassoziationsketten“, „Gesetzespuzzlespielen“, die Sie gebündelt und verschaltet in Ihrem Gedächtnis haben.
Ich behaupte nicht, dass die gesamte Rechtswissenschaft in solche assoziative Kommoden und Wissensspeicher eingespeist und das Neue immer im Alten, das Spezielle immer im Generellen gefunden werden kann, dazu sind die Wirklichkeit und das Gesetz, die wir in der Juristerei immer wieder sich paarend zusammenbringen müssen, zu kompliziert. Aber für das Lernen ist das Anlegen solcher Ordnungen und Systeme unumgänglich. Das blitzschnelle Anklicken der Schubladen fällt Ihnen umso leichter, je besser Sie darin trainiert sind. Die detektivische Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden, Querverbindungen und Ankopplungen lohnt sich – Sie behalten besser!

So kommt Jura ins Gedächtnis! Und vor allem: So bleibt Jura im Gedächtnis!

Den zweiten Behaltenstrick zeige ich Ihnen im nächsten Beitrag.

Beitrag: 59 Wie Jura ins Gedächtnis kommt? – Teil II: Die Entkomplizierung der Komplexität

Ganz einfach! Lernen Sie einfach einfach! Lernen Sie intelligent! Intelligentes Lernen ist einfaches Lernen. Damit die neuen juristischen Informationen Ihre Kurzzeitbarrieren überwinden und sich im Langzeitgedächtnis einnisten können, müssen Sie Ihr Lernen entkomplizieren. Anderenfalls prallen sie ab! Es ist gar nicht so kompliziert, Ihr Lernen einfach zu machen. Es ist fast immer das „Viele“, das „Alles“ und das „Alles gleichzeitig“, was übereifrige Studenten wollen und damit ihr Gedächtnis blockieren. Komplexität kann aber nur reduziert werden, indem Sie weniger machen, priorisieren und die Dinge hintereinander „einfach“ lernen. – Warum? Weil der normale Student die Einfachheit braucht, wenn die Komplexität um ihn herum zunimmt. Der gute Student sucht nach der Einfachheit in der Vielfalt, nach Übersicht, Ordnung und Struktur – er sucht das intelligente juristische Lernen.

Was das Verständnis für einfaches Lehren in der Juristerei allerdings erschwert, ist der Aberglaube, juristische Dinge könne man nun mal nicht einfach ausdrücken, das wirke zu trivial, zu simpel. Aber: Die meisten Menschen verstehen keine komplizierten Probleme, sie verstehen nur einfache. Wahrscheinlich zählen auch die meisten Studenten dazu! Also sollten auch Sie die Probleme für sich so aufschließen, dass sie eine Reihe einfacher juristischer Gedanken ergeben. Das geht tatsächlich!

Komplex wird es für Sie als Jurastudent beim Jurastudium immer dann:

 Wenn Sie mehrere und zudem nicht klar definierte Lernziele verfolgen. An dieser Bedingung scheitern viele gutgemeinte Lernstunden. Wenn das Ziel nicht klar ist, bleibt der Erfolg mangels Übersichtlichkeit aus.
 Wenn Sie nicht in der Lage sind, die Kurzfassung einer 2-stündigen Lerneinheit auf einer einzigen Karteikarte in Großbuchstaben unterzubringen.
 Wenn Sie die wichtigsten Hilfsmittel des vereinfachenden Lernens nicht mobilisieren können: den Mut zum Baumdiagramm und zum Assoziationslernen.
 Wenn für Sie unklar bleibt, was wesentlich ist: Wenn Sie die Tatbestandsmerkmale nicht erkennen.
 Wenn Sie auf Alternativen und noch mehr Alternativen nicht verzichten können.
 Wenn Sie immer mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen versuchen. Nur diese eine Lernfliege ist jetzt wichtig. Danach erst die nächste Fliege.
 Wenn Sie nicht wissen, wann Sie genug gelernt haben.
 Wenn Sie die Hoffnung haben, dass sich die Komplexität irgendwie und irgendwann und irgendwo von selbst löst.
 Wenn Sie sich schon im Anfang von dem „Komplexitätstreiber“ Wissenschaftlichkeit verlocken lassen und ihn nicht für spätere Hausarbeiten zurückhalten.
 Wenn Sie immer in der Angst leben, sich dumm zu machen beim Außerachtlassen der 5. Alternative bei § 812 Abs. 1 BGB (nur als Beispiel).
 Wenn Sie gelobt werden wollen, weil Sie alles „gelernt haben“.
 Wenn Sie das Wesentliche Ihrer 2-stündigen Lerneinheit Ihrer Tante oder Ihrem Opa nicht in fünf Minuten erklären können.
 Wenn Sie immer nach juristischen Hindernissen suchen, obwohl vielleicht gar keine da sind.
 Wenn Sie nicht die Leitplanken der Einfachheit und Klarheit ständig im Kopf haben.
 Wenn Sie nicht erkennen, dass Sie nicht zur stofflichen Lücke bereit sind.
 Wenn Sie ständig Reparaturarbeiten vornehmen, obwohl das juristische Werk, an dem repariert werden soll, noch gar nicht errichtet ist. Was am Anfang nicht gebaut worden ist, kann später nicht repariert werden.
 Wenn Sie nicht in Erwägung ziehen, dass Ihre studentische Fähigkeit zur Aufnahme die knappste Ressource Ihrer Lerneinheit ist.
 Wenn Sie nicht in der Lage sind, sich einmal in die Lage der Dozenten zu versetzen. Wie würden Sie persönlich denn den zu lehrenden Stoff „einfach“ darstellen?

So mancher Jura-Dozenten neigt neben der Illusion aller Menschen, dass das, was ihnen klar ist, auch anderen klar sei, gern dazu, die Juristerei allzu sehr als einen gewaltigen, unendlich komplizierten und komplexen geistigen Apparat zu betrachten. So betrachtet und gelehrt, muss die Juristerei den Studenten in der Tat als etwas Fernes und Unerreichbares erscheinen, als etwas, was das studentische Fassungsvermögen übersteigt und in seiner Komplexität jenseits des Begreifbaren liegt.

Wie alle Präzisionshandwerke hat aber auch das juristische Lernen seine könnerhafte Meisterschaft. Ein Teil davon ist diese meisterliche Kunst, das juristische Wissen möglichst einfach ins Gedächtnis strömen zu lassen, um einfache Ankopplungen zu ermöglichen.
Es ist die Kunst,

 in die Komplexität der wirklichen Welt einerseits (das sind die Lebenssachverhalte)
 und in die Komplexität der künstlichen Welt andererseits (das sind die Gesetze)

Klarheit und Einfachheit zu bringen. Diese hohe Kunst setzt voraus, die entscheidenden Punkte für Ihr erkennendes Lernen zu sichten und sichtbar zu machen und zunächst alles Überflüssige und Unwichtige wegzulassen. Man kann es auch „Priorisierungsfähigkeit“ nennen. Egal wie: Man braucht dafür den Blick für das Wesentliche und Vorrangige und die Übung, um dieses Vermögen zu erwerben und für sein Lernen souverän nutzbar zu machen. Ihr geistiger Zugriff muss zumindest im Anfang auf das Wesentliche ausgerichtet sein. Folglich muss eine gewaltige Datenreduktion stattfinden. Komplizierte Details müssen zu Beginn des Studiums weggelassen werden.

Damit Sie als Student nicht in der Flut solcher Details ertrinken, muss Ihr Bemühen darauf gerichtet sein, die beiden verschiedenen Welten der komplexen Wirklichkeit und der komplexen Gesetze in Ihrem Lernen zu vereinfachen. Bringen Sie Einfachheit in diese Komplexität(en), damit Ihre „Lernstunden“ zu „Sternstunden“ für Ihr Gedächtnis werden! Einfachheit ist im Anfang des Studiums der sicherste Weg, Jura dauerhaft im Gedächtnis zu verdrahten. Der Weg der Einfachheit hat wenig zu tun mit den herkömmlichen Einwänden vieler juristischer Professoren. Einfach heißt keinesfalls leicht! Einfachheit bedeutet keineswegs Niveauverlust! Denn Änderungen hin zur Einfachheit erfordern viel Anstrengungen. Es ist für einen Dozenten viel leichter, juristische Institute kompliziert darzustellen und sich hinter Wortverhauen zu verstecken, als sie einfach zu lehren. Die juristischen Lehr-Rituale, überwiegend verschachtelte Antworten auf verschachtelte Fragen zu präsentieren, müssen Sie bald durchschauen.

„Kompliziert“ (lat.: complicare, zusammenfalten) sind die Dinge, wenn sie eben zusammengefaltet, verwickelt, umständlich, schwierig und beziehungsreich sind. Als „einfach“ dagegen wird bezeichnet, was leicht verständlich, entfaltet, eingängig, problemlos, unschwer, ohne Umschweife verstehbar ist.

Man kann nun die Juristerei durchaus als „komplex“ beschreiben, den Umgang mit diesem „System Recht und Gesetz“ als „kompliziert“. Kein Zweifel: Die Juristerei ist mit ihren vielen Elementen in ihrer beziehungsreichen Vielschichtigkeit und Verschiedenartigkeit ein komplexes System:
 Sie weist nahezu unfassbare viele ineinander gefügte Elemente in Form von Rechtsgebieten, Gesetzesbündeln, Rechtsinstituten, Paragraphen, Tatbestandsmerkmalen und Definitionen auf.
 Die Zahl der möglichen Beziehungen und Verknüpfungen zwischen diesen Elementen ist nahezu unendlich groß.
 Die Art der Beziehungen zwischen den Elementen ist keineswegs immer gleich, sondern in unterschiedlichen Rechtsgebieten in hohem Maße verschiedenartig.
 Die Zahl der Elemente, die Zahl der Beziehungen und die Verschiedenartigkeit verändern sich und wachsen im Zeitablauf durch den überquellenden Gesetzgeber und die wuchernde Rechtsprechung ständig.
Eine Komplexitätskurve würde zeigen, was bei einer zunehmenden Zahl von Gesetzen mit ihren Tatbestandsmerkmalen und ihren vielschichtigen Beziehungen untereinander passiert: die Komplexität stiege progressiv. Um gegenzusteuern, müssen Sie zur Vermeidung steigender Komplexität die Komplexität beim Lernen reduzieren. Das entscheidende juristisch-didaktische Mittel, der Erfolgsfaktor für die Komplexitätsbeherrschung, ist die Reduktion der juristischen Komplexität auf juristisch einfache methodische und systematische Elemente des Gelernten zur immer wieder neuen und anderen juristischen Reproduktion der Komplexität, der Vielheit und Vielschichtigkeit. Das klingt so furchtbar „kompliziert“ und ist doch so „einfach“ zu übersetzen:

 die Zurückführung (Reduktion)
 der Vielschichtigkeit (Komplexität)
 auf die aus dem Gelernten gewonnenen Bestandteile (Elemente),
mit denen Sie dann jederzeit in anderem Zusammenhang (bei einem anderen Fall!)
 die Wiedererzeugung (Reproduktion)
 der Gesamtheit der Merkmale (Komplexität) beginnen können.

Sie müssen lernen, Einfachheit gegen Komplexität zu stellen! Das ist das A und O des juristischen Lernens. Unser Gehirn hat nämlich ein großes Problem: Es ist von der Evolution nicht für komplexe Gegenstände gerüstet worden, sondern nur für einfache. Das Recht ist jedoch ein höchst komplexer Gegenstand, wie Sie inzwischen wissen oder doch erahnen. Sie können aber, wie jeder andere Mensch auch, nur einfache Strukturen und Programme in Ihrem Langzeitgedächtnis einspeichern!

Trainieren Sie deshalb die Fähigkeit,
erstens, einfache eigene Strukturen zu formen und diese dann untereinander mit Hilfe geeigneter „Strukturverwaltungsprogramme“ (Konditionalprogramm, Baumdiagramme, Stufentechnik und Assoziationsketten) zu verknüpfen,
zweitens, einfache Falllösungsprogramme für die Rechtsanwendung in Form von Gutachten und Subsumtion zu speichern, und die Fertigkeit zu schulen, mit Schemata zu arbeiten,
damit Sie so auch komplizierte Aufgaben bewältigen können. So werden Sie Experte für die erfolgreiche Vereinfachung der juristischen Komplexität. Denn so kommt Jura ins Gedächtnis! Der gute Student hat das begriffen, der schlechte nie!

Diese Weisheit müssen Sie jeden Tag neu für Ihre juristische Lern-Wanderstrecke als ständige Wegzehrung in den Rucksack packen. Wer diese „Reduktion- und Reproduktion-Formel“ beherrscht, wird sein Lernen besser beherrschen und Lernerfolg haben. Glauben Sie mir, jedes Rechtsinstitut und jedes Gesetz lässt sich entkomplizieren und in einfache Elemente zerlegen, jedes! Und genau so kommt Jura ins Gedächtnis! Aber bleibt es auch im Gedächtnis? – Dazu im nächsten Blog!

Beitrag: 60 Was ein Baumdiagramm ist, und wozu dieses Lernwerkzeug gut ist?

Das Baumdiagramm ist das beste Haft- und Entkomplizierungsmittel für juristische Inhalte und damit ein juristischer „Lern-Star“. Es bringt Ordnung in das Oben und Unten, Rechts und Links der Juristerei und ist ein Kunstgriff, der das intelligente, strukturierte, Ihr nach Einfachheit und Behalten strebendes juristisches Lernen entscheidend fördern kann. Das richtige „Juralernen“ erfasst ja nie einen singulären Fall, ein einzelnes Gesetz oder ein vereinzeltes Problem, sondern immer auch ihre Einbettung in den über-, neben- und untergeordneten Systemzusammenhang. Suchen Sie diese juristische Verallgemeinerung hinter dem Speziellen, das Zusammenhängende im Zusammenhanglosen, das Abstrakte im Konkreten. Fragen Sie sich deshalb immer: „Was will mir dieses Gesetz, dieses Problem, dieser Fall über sich selbst hinaus sagen?“ – „Wofür stehen sie im juristischen System Pate?“ – „Wie ordne ich die Antworten auf diese Fragen in meine juristischen Gesamtzusammenhänge ein?“

Potente juristische Studentengehirne stärken sich nicht nur durch Lesen und Hören, sondern mehr noch durch die Systematisierung des Gelesenen und Gehörten. Sie suchen nach dem System. Als Eselsbrücke könnte der Merkspruch dienen: „Dem System Jura ist das System systemimmanent.“ Diese „Systematik“ erlaubt es, ursprungsverwandte Gesetze, Paragraphen und Rechtsinstitute trotz ihrer Abwandlungen in Sprache, Aufbau, Funktion und Stellung zu identifizieren. Je systematisierter Ihr Lernstoff, desto höher ist die Behaltensquote.

Überforderung entsteht im Jurastudium durch eine Oberflächenorientierung, wenn Sie die juristischen Inhalte als unzusammenhängende und nebeneinanderstehende Einzelteile wahrnehmen. Das führt zu Auswendiglernen ohne Verständnis und zu einem Gefühl des Verlorenseins. Sie lernen aus Angst, rein extrinsisch motiviert. Lernen Sie dagegen, in übergeordneten Zusammenhängen, verknüpfenden Netzwerken und strukturierten Hierarchien Wissen einzuordnen – wie jetzt in unseren Baumdiagrammen –, lernen Sie mehr und mehr aus Freude, tief und intrinsisch motiviert.

Es gibt keinen (!) juristischen Lernbereich, in dem Sie das „Lernwerkzeug Baumdiagramm“ nicht einsetzen können! Es gibt kein Problem oder Stoffgebiet, welches Sie nicht in der Systemdiagrammform strukturiert darstellen und sich einprägen können. Sie müssen sich nur darum bemühen und sich im Systemdiagrammdenken und Strukturieren des juristischen Lernstoffes trainieren! Jede juristische Information haftet ganz anders in Ihrem Juragedächtnis, wenn sie von einem Baumdiagramm huckepack genommen worden ist. Dieser juristische Lern-und-Verständnis-Aufbereiter ist von allergrößter Bedeutung für Ihr juristisches Verstehen, Lernen und Behalten sowie Garant dafür, zu verhindern, dass Informationen von Ihrem Kurzzeitgedächtnis bewusst oder unbewusst nicht ins Jura-Langzeitgedächtnis transportiert oder von diesem wieder vergessen werden. Die detektivische Suche nach systematischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden, Querverbindungen und Ankopplungen lohnt sich – Sie behalten besser!

Stellen Sie sich einmal einen großen Supermarkt vor. In einem solchen Einkaufsmarkt muss ein Ordnungssystem herrschen, sonst ginge er Pleite, weil der Kunde nichts fände und verschreckt den Laden verließe. Nehmen wir an, unser Supermarkt verfügte über ein Warenangebot von 10.000 Artikeln, die unsystematisch wild verstreut über die Verkaufsfläche verteilt wären, und fragen uns, was nun geschehen würde. Da der gewünschte Artikel überall und nirgends stehen könnte, wäre es rein theoretisch möglich, dass der Kunde 9.999 Artikel durchmustern müsste, ehe er seine gesuchte Ware gefunden hätte. Was der Jurastudent schon im ersten Semester an „juristischen Informationen“ im Kopf hat, überschreitet bei Weitem die Zahl von 10.000 Jura-„Waren“. Würden diese „Informationswaren Jura“ unsystematisch, rein zufällig im Studentengedächtnis gespeichert, würde der Student beim Denken, Suchen und Erinnern wahnsinnig – so wie der Supermarkt bankrott ginge. Da dies nun weder hier noch da so ist, müssen Jura und Supermarkt etwas mit System und Ordnung zu tun haben. Ja, Systeme bringen Ordnung in das Ganze!

Das Wort „System“ bedeutete ursprünglich etwas eher Konkretes: Ein aus mehreren realen Teilen zusammengesetztes und gegliedertes Ganzes (griech.: syn, zusammen; histanai, stellen). Ein „reales Puzzle“. Auf den Hochschulen versteht man unter System heute eher etwas Abstraktes: Eine geordnete „Zusammenstellung“ zusammengehöriger abstrakter Denkbestimmungen (z.B. juristischer Inhalte) zu einem relativ geschlossenen Ganzen. Ein „geistiges Puzzle“, bestehend aus Über- und Untersystemen, die innerlich miteinander verbunden sind.

Ein paar Beispiele für solche „Puzzles“?
● Das „System Kosmos“ zerfällt in viele Galaxien-, Sonnen-, Planetenuntersysteme, die wahrscheinlich unzählig oft unter- und nebeneinander stehen, innerlich systematisch-verbunden durch die Naturgesetze.
● Unser „System Körper“ umfasst Organ-, Gefäß-, Kreislauf-, Nervenuntersysteme, innerlich systematisch-verbunden durch physiologische Abläufe.
● Das „System Politik“ gliedert sich hierarchisch und sachgebiets-systematisch in Staats-, Verwaltungs-, Wirtschaftsuntersysteme über-, unter- und nebeneinander, innerlich systematisch-verbunden durch ein (hoffentlich) am Gemeinwohl orientiertes Handeln.
● Auch das „System Recht“ stellt ein gegliedertes Ganzes dar. Es ist so ein „reales“ wie „geistiges Puzzle“, ein Inbegriff von Begriffen, ein Ganzes von Gesetzen, Regeln, Prinzipien, Sätzen und Methoden, die durch eine gemeinsame Form und Methodik innerlich systematisch verbunden sind. Es erscheint als ein vereinigender pyramidaler Aufbau aus einfachen, sich nach oben fortgesetzt verjüngenden und komplizierenden Elementen, wie Etagen und Stockwerke, die sich neben- und übereinander lagern. Es gliedert sich nach seinen parallelen Rechtsbereichen in Öffentliches Recht, StGB, BGB und den „Rest“ immer von oben nach unten in einer hierarchisch abgestuften Begriffsfolge, der organischen Einheit des juristischen Rechtsbereichs entsprechend.

Das Verstehen dieser „Systembäume“ ist nicht nur für Astronomen, Mediziner oder Politiker bedeutsam, sondern ganz wichtig für Ihr theoretisches juristisches Verständnis. Aber auch praktisch für Ihr juristisches Lernen. Oft können Sie damit Ihre Lern- und Verstehensprobleme in einer Weise so schlau simplifizieren, dass Sie selbst verwundert vor Ihren Baumdiagrammen stehen. Die Baumdiagramme sind die wichtigsten Strukturierer für Sie, die Stars unter den juristischen Verstehens-, Behaltens- und Lernhilfen, und das ein juristisches Leben lang.

Und so funktioniert nun ein solches Baumdiagramm.

Seine Theorie heißt: Bäume pflanzen! Ihnen einen Namen geben! Äste, Zweige und Blätter mit Etiketten beschriften! Die Struktur eines Baumdiagramms kann mit der Ansicht eines Baumes aus der Froschperspektive verglichen werden. Während der „Stamm“ mit dem Namen des Themas bezeichnet wird, markieren die „Äste“ zugehörige Hauptpunkte, die „Zweige“ Unterpunkte und die „Blätter“ Feinpunkte. Die nachfolgenden vier Schritte sollen Sie zu einem ersten Verständnis führen.
1. Schritt: Nehmen Sie einen DIN-A4-Bogen im Querformat und etikettieren Sie oben in die Mitte des Blattes das zentrale Thema.
2. Schritt: Von Ihrem Zentrum (dem „Stamm“ Ihres Baumes) gehen Hauptäste aus, die Ihr Thema in einzelne Bereiche – Hauptpunkte – aufsplitten. Sie gewinnen eine Grobstruktur. Die Hauptäste etikettieren Sie als Hauptpunkte mit prägnanten Stichwörtern.
3. Schritt: An die Hauptäste können weitere Zweige und Blätter angefügt werden. Sie stellen einzelne Ideen oder Ideengruppen dar. Nun werden Sie es zu schätzen wissen, ein DIN-A-Blatt im Querformat gewählt zu haben. Einzelne Stichwörter als etikettierende Bezeichnungen der Zweige genügen als Assoziation für Ihr Gedächtnis und Gehirn. Doch sollten die Etiketten von Ihnen mit Pfiff individuell und vor allem merkfähig gewählt sein.
4. Schritt: Nachdem Sie das Baumdiagramm erstellt haben, können Sie durch Nummerierungen Prioritäten setzen oder Bearbeitungsreihenfolgen festlegen.

Egal was an juristischen Problemen, Paragraphen oder Instituten auf Sie zukommt, und das werden gerade am Anfang nicht wenige sein, Sie können sich selbst immer wieder mit Ihren Baumdiagramm-System-Wegweisern in die Gesetzessystematik hineinfinden. Sie können Ihre neue Erkenntnis an die alten Erkenntnisse besser ankoppeln und Neues wie Altes in die Systeme eintäfeln und so im Gedächtnis dauerhaft fixieren.

Sie sehen, dass jeder beliebige Punkt innerhalb eines solchen systematischen Strukturbaums durch eine dreifache Blickrichtung seine Prägung erhält:

Blick nach oben -> höhere, abstraktere Begriffe
Blick nach unten -> niedrigere, konkretere Begriffe
Blick zur Seite -> parallele, gleichgelagerte Begriffe

Schon sind Sie drin – im hierarchischen System! Es ist eine Matroschka-Technik wie bei den russischen Püppchen, orientiert am Enthaltensein von Etwas in Etwas, vom kleinen „In“-halt bis zur Vereinigung aller kleineren Behälter im Großbehälter der Rechtordnung.

 

Beitrag: 61 Die Formen der Täterschaft

Beispiel: Die beiden Einbrecher Max und Moritz bekommen vom Gärtner Reiner der reichen Witwe B den „heißen Tipp“, dass diese über Nacht zu ihrer Tochter gefahren sei und sich ihre mit wertvollem Geschmeide überquellende Schmuckschatulle im Kopfkissen befinde. Max und Moritz beschließen daraufhin, mit einem Dietrich „das Ding zu drehen“. Oskar steht gegen eine Belohnung von 200 Euro „Schmiere“.

In unseren bisherigen Überlegungen wurden alle Delikte immer nur von einer Person verwirklicht. Im alltäglichen Leben geschieht es nun aber oft, dass mehrere Personen auf der Bühne des Verbrechens in unterschiedlich wichtigen Haupt- und Nebenrollen „zusammenspielen“.
Übersetzt in die Sprache des Strafjuristen heißt das, dass mehrere Beteiligte bei der Verwirklichung eines Tatbestandes „zusammenwirken“. Max, Moritz, Reiner und Oskar haben sämtlich am Tatbestand des Diebstahls in einem besonderes schweren Fall in Form des sog. Nachschlüsseldiebstahls i.S. des § 243 Abs. 1 Nr. 1 StGB mitgewirkt, wenn auch mit durchaus unterschiedlich gewichtigen Tatbeiträgen.

Die Frage ist, wie man dem Zusammenspiel mehrerer Personen strafrechtlich auf den Leib rückt. Zwei Wege bieten sich an:
1. Man differenziert zunächst überhaupt nicht. Jeder, der mitursächlich wurde, ist Täter. Max, Moritz, Reiner und Oskar haben alle einen ursächlichen Tatbeitrag zu dem Nachschlüsseldiebstahl geleistet und sind damit alle zu Tätern geworden. Die Differenzierung nach Art und Umfang des geleisteten Tatbeitrages – Max und Moritz haben die Schmuckkassette weggenommen, damit den eigentlichen Tatbestand erfüllt, Reiner hat „nur“ den Tipp gegeben, Oskar hat „nur“ Schmiere gestanden – erfolgt erst bei der Strafzumessung.
Dieses sog. Einheitstäterprinzip ist äußerst praktikabel, einfach und unkompliziert, erspart es doch auf der Ebene des Tatbestandes eine Differenzierung zwischen verschiedenen Teilnahmeformen. Zu fragen ist nur, ob der einzelne geleistete Tatbeitrag hinweggedacht werden kann, ohne dass der konkret eingetretene Deliktserfolg entfiele.
Diesen Weg ist der Gesetzgeber im Ordnungswidrigkeitenrecht (vgl. § 14 Abs. 1 OWiG) gegangen, da dieses Rechtsgebiet von juristisch nicht ausgebildeten Beamten täglich auf eine Vielzahl von Lebenssachverhalten angewendet werden muss. Eine komplizierte Beteiligungslehre, wie wir sie gleich für das Strafrecht kennen lernen werden, ist hier nicht praktisch. Der Beamte stellt den kausalen Beitrag fest, damit ist die Täterfrage geklärt, und er gewichtet Art und Umfang des Tatbeitrages bei der Festsetzung der Geldbuße (vgl. § 17 OWiG).
Leider konnte sich auch der moderne deutsche Gesetzgeber nicht zu dieser Lösung des Problems der Beteiligung mehrerer an einer strafbaren Handlung entschließen, obwohl die Gründe gegen den Einheitstäterbegriff letztlich nicht überzeugen und vom österreichischen Gesetzgeber im österr. StGB widerlegt worden sind. Man vermutet wohl nicht zu Unrecht die geschichtliche Überlieferung („Es war schon immer so“) hinter der Ablehnungsfront und belastet damit Richter und Student gleichermaßen.

2. Man differenziert bereits auf der Tatebene in Täter- und Teilnehmertypen. Max, Moritz, Reiner und Oskar werden nicht erst im Rahmen der Strafzumessung auseinander dividiert, sondern es wird bereits auf der Tatbestandsebene durch eine komplizierte Täterschafts- und Teilnahmelehre differenziert. Diesen Weg ist unser StGB gegangen.

Die Tatbestände des besonderen Teils werden jeweils durch den § 25 ff. StGB (Täterschaft und Teilnahme) folgendermaßen ergänzt:
Wer nur den Anstoß zu der Tat eines anderen gibt, ist nicht Täter, sondern Anstifter (vgl. § 26 StGB). Die Anstiftung besteht ihrem Wesen nach darin, dass der Anstifter in dem Täter der fremden Tat den Entschluss zur Tat hervorruft.
Wer nur die Tat eines anderen unterstützt, ist nicht Täter, sondern Gehilfe (vgl. § 27 StGB). Die Beihilfe besteht in irgendeiner unterstützenden Förderung des Täters der fremden Tat.
Wirken mehrere als Täter arbeitsteilig zusammen, so sind sie Mittäter (vgl. § 25 Abs. 2 StGB).
Begeht jemand die Tat durch einen anderen als „Werkzeug“, ist er mittelbarer Täter (vgl. § 25 Abs. 1 2. Alt.).
Begeht er die gesamte Tat, d.h. sämtliche Tatbestandsmerkmale in eigener Person, ist er unmittelbarer Täter (vgl. § 25 Abs. 1 1.Alt. StGB).

Wendet man diese Grobstruktur noch laienhaft auf den Ausgangsfall an, so kommt man für Max und Moritz auf Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB), für Reiner auf Anstiftung (§ 26 StGB) und für Oskar auf Beihilfe (§ 27 StGB). Wir wollen sehen, ob dieses Ergebnis auch einer feineren Strukturierung standhält.

Zunächst sollen die oben nur skizzierten Erscheinungsbilder jeweils näher dargelegt werden (6.2; 6.3), bevor wir uns der schwierigeren Frage zuwenden, wie die Täterschaft von der Teilnahme eigentlich genau abzugrenzen ist (6.4). Danach dann einige Spezialprobleme (6.5).

Erscheinungsbilder der Täterschaft

Die verschiedenen Formen der Täterschaft kennzeichnet das Gesetz in § 25 StGB.

1. Unmittelbare Täterschaft (§ 25 Abs. 1 1. Alt. StGB)
In seinem Bestreben, möglichst für alle Formen der Täterschaft eine Legaldefinition zu bringen, hat der Gesetzgeber eine Selbstverständlichkeit gesetzlich geregelt.
A tötet seine Frau, um sie zu beerben
A vergiftet den Wachhund
A stiehlt Geld aus der Kasse, um es zu verjubeln
A hat jeweils sämtliche Tatbestandsmerkmale der §§ 211, 303, 242 StGB verwirklicht. Nach § 25 Abs. 1 1. Alt. StGB kann n u r Täter sein, wer in seiner Person und in seinem Handeln alle Deliktsvoraussetzungen erfüllt, also voll tatbestandsmäßig handelt; er ist damit immer und notwendig Täter.

2. Mittelbare Täterschaft (§ 25 Abs. 1 2. Alt. StGB)
Bei der mittelbaren Täterschaft handelt es sich darum, dass der Täter seine Tat nicht selbst ausführt, sondern sich eines anderen – den er beherrscht – als menschliches Werkzeug (Tatmittler) bedient, also einer Person, die ihm die Tat „vermittelt“.

Beispiel: A, der an den Nachlass kommen will, tötet seine Ehefrau nicht selbst, sondern gibt der ahnungslosen Haushälterin B statt Zucker Arsen in die Zuckerdose. B „süßt“ damit den servierten Kaffee. Ehefrau Emma stirbt.

Hier kommt § 211 StGB in Frage (heimtückisch und habgierig), zwar nicht für B – sie handelte nicht vorsätzlich – wohl aber für A. Das Verhalten des A war ursächlich für den Tod der Ehefrau. Er hat die Tat aber nicht selbst – persönlich – ausgeführt; unmittelbar getötet hat die B. Rein äußerlich betrachtet handelt es sich um eine fremde Tat. B kann aber nicht als Täterin bestraft werden, da sie zwar „getötet“, aber nicht vorsätzlich gehandelt hat. Sie wusste nicht, dass sie tötet und wollte die Tötung nicht. Das entsprach auch dem Plan des A. Er hat die B als argloses Werkzeug eingespannt, um den von ihm gewollten Tod der E herbeizuführen, seine eigene Tat also durch eine andere Person ausführen zu lassen.

Demjenigen, der eine von ihm beabsichtigte strafbare Handlung nicht selbst zur Ausführung bringt, sondern sie statt seiner durch einen Anderen als persönliches Werkzeug ausführen lässt, der, aus welchen Gründen auch immer, nicht selbst als Täter bestraft werden kann, sind alle Handlungen des unmittelbaren Täters (Werkzeug, Tatmittler) als eigene zuzurechnen. Es kann keinen Unterschied machen, ob die Kausalkette über ein „sachliches Werkzeug“ oder über einen anderen Menschen als quasi „persönliches Werkzeug“ läuft.

Es ist ganz wichtig, dass Sie sich hier merken, dass beim „Tatmittler“ immer eine strafrechtliche Defektsituation auf der Ebene der Schuld (z.B. vorsatzlos), Rechtswidrigkeit oder des Tatbestandes gegeben ist; es fehlt ihm im Deliktsaufbau immer ein kleines Stück.

Beispiel 1: A, der seine Ehefrau beerben will, steuert den schizophrenen C, der sich ihm gegenüber als Beauftragter des Erzengels Gabriel zur Rettung der Männlichkeit darstellt, auf seine Ehefrau E, die von C nunmehr, um ein „göttliches Zeichen“ zu setzen, hingerichtet wird.

Während im Ausgangsfall der Vorsatz der Tatmittlerin B fehlte, mangelt es nun an der Schuldfähigkeit des unmittelbaren Täters C (§ 20 StGB). Hier ist, wie auch etwa bei strafunmündigen Kindern (§ 19 StGB) als Tatmittler, der Hintermann stets mittelbarer Täter.

Beispiel 2: A zwingt D durch die Drohung, ihn sonst zu erschießen, seine – des A – Ehefrau zu töten.

Auch hier mangelt es an der Schuld des Tatmittlers. Zwar handelte D vorsätzlich und war auch schuldfähig, jedoch greift zu seinen Gunsten der Entschuldigungsgrund des § 35 StGB ein. Führt der Hintermann diese Notlage herbei, so liegt ein klassischer Fall der mittelbaren Täterschaft vor.

Beispiel 3: A bewirkt durch eine falsche Anschuldigung und einen Meineid, dass seine Ehefrau E zu einer langjährigen Freiheitsstrafe durch Richter G rechtskräftig verurteilt wird.

Im Unterschied zu den vorangegangenen klassischen Fällen der mittelbaren Täterschaft, in denen die Werkzeuge jeweils tatbestandlich und rechtswidrig – lediglich nicht schuldhaft – handelten, fehlt es hier bereits an der Rechtswidrigkeit der Freiheitsberaubung (vgl. § 239 StGB). Das zur Freiheitsstrafe verurteilende Gericht und die Strafvollstreckungsbehörde handeln rechtmäßig. A ist der mittelbare Täter einer Freiheitsberaubung, der Richter G als Tatmittler benutzt.

Beispiel 4: Arzt Dr. A spiegelt seiner Ehefrau E vor, sie leide unheilbar an Krebs. E entschließt sich in ihrer subjektiv empfundenen Ausweglosigkeit und Verzweiflung unter dem unerträglichen Leidensdruck zum Selbstmord und erschießt sich.

Hier handelt die Ehefrau noch nicht einmal tatbestandlich, da § 212 StGB die Tötung eines A n d e r e n voraussetzt. A ist der mittelbare Täter eines Mordes oder Totschlages (vgl. §§ 211, 212 StGB).

Handelt dagegen der Tatmittler selbst voll deliktisch, also tatbestandlich, rechtswidrig und insgesamt schuldhaft, scheidet mittelbare Täterschaft grundsätzlich aus, vielmehr kommt § 25 Abs. 1 1. Alt. StGB zum Einsatz.

Bei der klausurentechnischen Aufbauprüfung der mittelbaren Täterschaft müssen Sie sich klar werden, dass alle Tatbestände des besonderen Teils des StGB in ihrer Grundkonzeption auf den allein handelnden unmittelbaren Täter zugeschnitten sind; nunmehr sind alle Tatbestandsmerkmale auf die Person des mittelbaren Täters zu beziehen, am besten geschieht das bei der Tatbestandshandlung.

Beispiel: A könnte sich dadurch, dass er seiner Ehefrau vorgespiegelt hat …, wegen Mordes, begangen in mittelbarer Täterschaft gem. §§ 211, 25 Abs. 1 2. Alt. StGB, strafbar gemacht haben.

1. Tatbestand
Das setzt zunächst voraus, dass er einen anderen Menschen getötet hat. Selbst hat er E nicht unmittelbar getötet. Er könnte aber den Mord in mittelbarer Täterschaft begangen haben. Mittelbarer Täter ist der Täter, der die Ausführung der Straftat durch einen anderen als Werkzeug (Tatmittler) vornehmen lässt. Dem mittelbaren Täter wird das Handeln des Tatmittlers wie eigenes Handeln zugerechnet, so dass er rechtlich so zu behandeln ist, als hätte er die vom Tatmittler ausgeführte Handlung selbst vorgenommen. A hat die Taten der unmittelbaren Täter, die straflos sind wegen
Fehlens des Tatbestandes,
Fehlens der Rechtswidrigkeit,
Fehlens der Schuldfähigkeit (vgl. §§ 19, 20 StGB),
Fehlens des Vorsatzes (§ 15 StGB),
Vorliegens eines Entschuldigungsgrundes (vgl. §§ 33, 35 StGB),
veranlasst und muss sich deshalb die Taten der Tatmittler wie eigenes Handeln zurechnen lassen.
2. Rechtswidrigkeit
Die Tatbestandserfüllung indiziert die Rechtswidrigkeit …
3. Schuld
A handelte vorsätzlich, da er vom Vorliegen der die mittelbare Täterschaft begründenden Umstände Kenntnis hatte und die Veranlassung der Tatmittler mit dem Willen geschah, die Taten der unmittelbaren Täter als eigene zu wollen.

3. Mittäterschaft
Gemäß § 25 Abs. 2 StGB ist Täter, wer die Tat mit mehreren gemeinsam durchführt. Geht es bei der mittelbaren Täterschaft um den „Täter hinter dem Täter“, könnte man bei der Mittäterschaft, um im Bild zu bleiben, vom „Täter mit dem Täter“ sprechen.

Beispiel: A und B brechen gemeinsam in das Warenlager des Teppichhändlers T ein und räumen es zusammen aus.

Da A und B bei dem Diebstahl im besonders schweren Fall (§§ 242, 243 Abs. 1 Nr. 1 StGB) alle Tatbestandsmerkmale jeweils selbst erfüllen, bedarf es in diesem Fall gar nicht der Figur der Mittäterschaft zur Begründung der Täterschaft. Diese ist als Zurechnungsprinzip erst erforderlich, wenn die Tat arbeitsteilig durchgeführt wird, d.h. jeder Mittäter nur einen bestimmten Teil der Tatbestandsverwirklichung durchführt.

Beispiel: A und B überfallen den O, um ihn seiner Barschaft zu berauben. A schlägt, wie vereinbart, O mit einer Eisenstange nieder, B ergreift die Brieftasche.

Ohne die Konstruktion der Mittäterschaft des § 25 Abs. 2 StGB könnte A sich dahingehend einlassen, er sei nur wegen gefährlicher Körperverletzung gem. §§ 223, 224 StGB, nicht aber wegen schweren Raubes gem. §§ 249, 250 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu bestrafen, da er nicht „weggenommen“ habe. B könnte sich verteidigen, auch bei ihm scheide eine Bestrafung wegen schweren Raubes aus, da er zwar „weggenommen“, aber O nicht „körperlich misshandelt“ habe, mithin könne er ausschließlich wegen Diebstahls gem. § 242 StGB verurteilt werden.
In diesem Fall entfaltet § 25 Abs. 2 StGB seine volle Klammer-Wirkung. Diese Bestimmung klammert A und B als Täter eines schweren Raubes zusammen, weil jeder von ihnen den durch die Kräfte des anderen verwirklichten Tatbestandsteil als von ihm selbst verwirklicht gelten lassen will. Beide sind strafbar nach §§ 249, 250 Abs. 1 Nr. 2, 25 Abs. 2 StGB, obwohl keiner von ihnen allein eigenhändig den vollen Tatbestand erfüllt hat.
Mittäterschaft ist das bewusste und gewollte Zusammenwirken mehrerer mit Täterwillen nach dem Prinzip der Arbeitsteilung, wobei sich jeder Tatbeteiligte den Tatbeitrag des anderen als eigenen zurechnen lassen will.
Für das bewusste und gewollte arbeitsteilige Zusammenwirken sind zwei Komponenten erforderlich:
1. Es muss ein gemeinsamer Tatentschluss (Plan) vorliegen, d.h. das gegenseitige ausdrückliche oder konkludente (stillschweigende) Einvernehmen über die gemeinsame Tatbegehung.
2. Es ist eine gemeinsame Tatausführung erforderlich, eben die für die Mittäterschaft symptomatische Arbeitsteilung.

Vier Besonderheiten sollten dabei Beachtung finden.

Der gemeinsame Tatentschluss (Plan) zum bewussten und gewollten Zusammenwirken muss nicht schon mit dem Beginn der Ausführungshandlung vorhanden sein, sondern es reicht aus, wenn ein Täter, der schon in der Ausführung begriffen ist, sich vor der Beendigung der Tat mit einem anderen verbindet.
 Während der Dieb A den aufgebrochenen Kiosk des K leer räumt, gesellt sich B dazu; beide teilen die Beute (sog. sukzessive Mittäterschaft). B muss sich auch das „Bis-jetzt“ zurechnen lassen, nicht nur das „Ab-jetzt“ (also auch § 303 bzw. § 243 Abs. 1 Ziff. 1 StGB).
Der Begriff der „gemeinsamen Tatausführung“ ist nicht wörtlich zu nehmen. Nicht nur die einzelnen Tatbestandsmerkmale werden zusammengerechnet, sondern auch bloße Vorbereitungs- und Unterstützungshandlungen. Es genügt, dass ein Beitrag bei der Tatbestandserfüllung im weiteren Sinn kausal weiterwirkt.
 Der Organisator eines Diebesunternehmens ist Mittäter an sämtlichen Diebstählen, die seinem Willen entsprechen („organisiertes Verbrechen“); die Organisation gehört zur „Arbeit“.
 Wer die Genossen zum Diebstahlsobjekt befördert oder sie von dort abholt oder wer das Objekt „ausbaldowert“, ist bei Vorliegen der entsprechenden subjektiven Täter-Faktoren Mittäter.
Geht einer der Mittäter über das gemeinsam Vereinbarte hinaus und begeht er auf eigene Rechnung weitere Straftaten, die im gemeinsamen Tatentschluss nicht vereinbart waren, so haftet der andere Mittäter dafür nicht. Jedem Mittäter fällt nur das Handeln der übrigen Mittäter im Rahmen seines Vorsatzes zur Last.
 A und B brechen gemeinsam bei Witwe B ein und entwenden deren „Kronjuwelen“. B hatte „vorsorglich“ einen geladenen Revolver eingesteckt, von dessen Existenz A nichts wusste. B erschießt die sie überraschende Witwe.
A ist wegen Wohnungseinbruchdiebstahls, begangen in Mittäterschaft, B wegen Mordes und Wohnungseinbruchdiebstahls in Mittäterschaft strafbar. Er hat einen sog. Mittäterexzess begangen. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es für das Tatsachengericht manchmal ist zu klären, was in den gemeinsamen Tatplan aufgenommen worden ist.
 Weil Mittäterschaft echte Täterschaft ist, muss jeder Mittäter alle Voraussetzungen erfüllen, die auch jeder sonstige Täter erfüllen muss. Deshalb keine Mittäterschaft, wenn
 Kaufmann Müller sich mit dem Beamten Schmitz verabredet, eine Falschbeurkundung im Amt (§ 348 StGB) zu begehen (Müller hat nicht die Sonderqualität „Beamter“ des Schmitz; Sonderdelikt),
 die Zeugen Max und Moritz sich im Prozess gegen Meister zu einer falschen Zeugenaussage verabreden und dann vor Gericht je einen Meineid (§ 154 StGB) leisten.
Max und Moritz sind als Alleintäter zu bestrafen, weil bei eigenhändigen Delikten (Delikte, die die eigenhändige Vornahme der Tathandlung voraussetzen wie z.B. §§ 154, 173, 179 StGB) Mittäterschaft schon begrifflich ausgeschlossen ist.

Fehlt ein gemeinsamer Tatentschluss oder eine gemeinsame Tatausführung, treffen zwei Täter rein zufällig bei der Begehung eines Delikts zusammen, so spricht man von Nebentäterschaft.

Für die gutachtliche Klausurenprüfung der Mittäterschaft sollten Sie folgende Ratschläge beachten:
 Mehrere Mittäter sind gleichzeitig zu prüfen, wenn es entweder auf der Hand liegt, dass alle sämtliche Tatbestandsmerkmale verwirklicht haben oder ein Zusammenwirken unzweifelhaft ist.
 Hat jeder von ihnen – isoliert betrachtet – nicht im vollen Umfang tatbestandlich gehandelt, klammert man über die Mittäterschaft die Tatbeiträge zusammen. Bei unterschiedlicher Gewichtung der einzelnen Tatbeiträge beginnt man die Prüfung immer mit dem tatnächsten Täter (der Mörder vor dem Sachbeschädiger!).

Kehren wir zum „Fall mit der Eisenstange“ zurück:

1. A könnte sich dadurch, dass er O zusammengeschlagen hat, um an dessen Barschaft zu kommen, wegen schweren Raubes, begangen in Mittäterschaft, gem. §§ 249, 250 Abs. 1 Nr. 2, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben.
Das setzt zunächst voraus, dass er O eine fremde bewegliche Sache in rechtswidriger Zueignungsabsicht weggenommen hat. Selbst hat er die Brieftasche, eine für ihn fremde bewegliche Sache, nicht weggenommen. Er müsste sich die Wegnahme seitens des B aber als eigene Handlung zurechnen lassen, wenn A und B gemäß § 25 Abs. 2 StGB in Mittäterschaft gehandelt haben. Mittäterschaft ist …
Subsumtion …
Also muss sich A die Wegnahme der Brieftasche durch B zurechnen lassen.

2. B könnte sich dadurch, dass er unter Gewaltanwendung seitens des A dem O die Brieftasche entwendet hat, wegen schweren Raubes, begangen in Mittäterschaft, gem. §§ 249, 250 Abs. 1 Nr. 2, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben.
B hat … (Bitte § 242 StGB prüfen!).
Dann müsste weiterhin die Wegnahme mit Gewalt gegen eine Person erfolgt sein. Selbst hat B keine Gewalt eingesetzt. Er müsste sich aber die Gewaltanwendung des A (bei A schon geprüft) wie eigenes Handeln zurechnen lassen, wenn A und B Mittäter sind. Wie oben gezeigt, handelten A und B in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken.
Also muss sich auch B die Handlungen des A wie eigene zurechnen lassen.

Spektakulärer Fall des BGH: Die zwei Einbrecher Anton und Bert vereinbaren, für den Fall des Entdeckt- und Verfolgtwerdens notfalls von der Waffe Gebrauch zu machen. Als bei der Flucht ein Verfolger hinter A auftaucht, feuert A in der irrigen Annahme, es handele sich um den Eigentümer E; in Wirklichkeit war es Bert. Bert wird schwer verletzt. Während A wegen versuchten Verdeckungsmordes gem. §§ 211, 22, 23 StGB verurteilt werden wird (error in persona ist kein Irrtum!!), wird Bert wegen versuchten Mordes, begangen in Mittäterschaft, an sich selbst gem. §§ 211, 22, 23, 25 Abs. 2 StGB abgestraft. Manchmal treibt die Dogmatik schon seltsame Blüten (vgl. dazu BGHSt 11, 268).

Im nächsten Beitrag nehmen wir die Erscheinungsformen der Teilnahme unter die Lupe und ihre Abgrenzung zur Täterschaft.