Jetzt tauchen wir ins Innere der Gesetze ein: Gesetze sind die Führer im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben. Sie sind der Mittelpunkt unseres rechtsstaatlich-gesellschaftlichen Koordinatensystems, ich wiederhole mich hier gern, und sie sind hochkomplizierte und komprimierte sprachliche Konstrukte. Sie sind Denk- und Sprachkunstwerke!
Sie müssen sich von Anfang an darum bemühen, Gesetze aufregend und mit Entdeckerfreude zu erleben. Sie sollten sich bald in einen einfühlsamen Übersetzer der Gesetze, in einen Dolmetscher des Gesetzgebers verwandeln – dies mit dem alleinigen Ziel, die Gesetze zu verstehen und die Spannungen zwischen Ihren Fällen und dem Gesetz zu entschärfen, wenn nicht gänzlich aufzulösen. Das geht tatsächlich! Wen das juristische Arbeiten mit dem Gesetz und immer hart am Gesetz erst einmal durch „begreifenden“ Erfolg infiziert hat, der ist geimpft gegen die angebliche Trockenheit und Langweiligkeit der Rechtswissenschaft und die angeprangerte Unverstehbarkeit ihrer Gesetze.
Das wichtigste Wesensmerkmal für die Führung der Gesellschaft durch die Gesetze ist das ihnen eingeborene Konditionalprogramm, einfacher ausgedrückt: ihr „Wenn-Dann-Grundsatz“. Wer es verstanden hat, hat schon viel verstanden! – Wenn der Voraussetzungsteil vorliegt, … dann tritt der Rechtsfolgenteil in Kraft. Das Wort Konditionalprogramm setzt sich zusammen aus den Wörtern „konditional“ (lat.: bedingend) und „Programm“ (griech.: vorgesehener Ablauf, Konzeption). Aus der Funktion des Gesetzes, Regeln zu „setzen“, um Konflikte zu vermeiden oder zu beheben, die im Zusammenleben der Menschen eintreten können, folgt zwingend diese „bedingende Konzeption“ des Gesetzes, sein Programm. Deshalb müssen sie so sein, wie sie sind, denn Gesetze zielen als die Instrumente zur Steuerung von Recht immer auf die Begründung von Rechtsfolgen ab.
Diese fundamentale Erkenntnis des Konditionalprogramms gilt für alle Gesetze, lässt sich für uns aber gut an dem einprägsamen Gebiet des Strafrechts verdeutlichen: Sie wissen schon, dass sich die rechtlichen Voraussetzungen für eine Bestrafung aus den Tatbeständen des besonderen Teils des Strafgesetzbuches ergeben. Die Grundstruktur sämtlicher dieser Paragraphen lautet immer gleich: „Wenn du das und das tust oder unterlässt, dann wirst du mit dem und dem bestraft.“ Um dieses „Das und Das“ geht es in der Lehre vom Tatbestand, in der Lehre der Rechtswidrigkeit und in der Lehre der Schuld, um das „Dem und Dem“ bei den Rechtsfolgen der Freiheitsstrafe oder Geldstrafe. Und genauso spielt sich dieses Programm im BGB ab: „Wenn Du das und das tust oder unterlässt, dann kannst Du das und das verlangen“ oder „dann bist Du zu dem und dem verpflichtet“.
Einige Beispiele zur Verdeutlichung:
Moni klaut ihrer Freundin Steffi die Brieftasche aus der Handtasche.
Max missachtet mit seinem Auto die Vorfahrt und verletzt Moritz schwer.
Susanne kauft bei Bäcker Kraus Brötchen und bezahlt nicht.
Ein solcher Konflikt wird nun in der Weise behoben, dass in einem anzuwendenden Rechtssatz, hier:
§ 242 StGB gegen Moni,
§ 823 Abs. 1 BGB für Moritz gegen Max,
§ 433 Abs. 2 BGB für Bäcker Kraus gegen Susanne,
ein Konditionalprogramm enthalten ist, das für den Fall des Eintritts eines bestimmten Tatbestandes (1. Teil: Voraussetzungsteil oder Wenn-Teil) eine ausgleichende Rechtsfolge als Konsequenz „setzt“ (2. Teil: Rechtsfolgeteil oder Dann-Teil). „Rechtsfolge“ ist das, was aus dem „Recht“, konkret aus dem Einzelgesetz, „folgt“, was also die Rechtsordnung ihren rechtsunterworfenen Bürgern zu be-„folgen“ aufgibt.
Jeder „Fall“ – bald jede Ihrer Klausuren eben – wird am Ende immer eine Fragestellung bereit halten, die auf Bestehen oder Nichtbestehen einer solchen Rechtsfolge gerichtet ist (sonst wäre es eben kein „Fall“ geworden).
Die Fragestellung für Moni könnte lauten: „Habe ich mich strafbar gemacht?“
Die Fragestellung für Moritz lautete: „Kann ich von Max Schadenersatz i.H.v. 1.000 € verlangen?“
Die Fragestellung für Bäcker Kraus könnte lauten: „Kann ich von Susanne 1 € verlangen?“
Für den rechtsanwendenden Studenten ist „Recht“ ja immer dann gegeben, wenn die Rechtsfolgen für die Fragen seiner Klausur: „Hat sich T strafbar gemacht?“ – „Kann A von B eine Leistung verlangen?“ – „Kann sich X mit einer Verfassungsbeschwerde gegen das staatliche Handeln wehren?“ aus den Voraussetzungen eines Gesetzes des StGB, des BGB oder der Verfassung abgeleitet werden können. Das ist dann der Fall, wenn die Voraussetzungen eines Straftatbestands des StGB, einer Anspruchsgrundlage des BGB oder einer Rechtsverletzung des Grundgesetzes erfüllt sind.
Also, wir halten fest: Den Gesetzen des BGB und des StGB liegt die Normstruktur des konditionalen Wenn-dann-Programms zugrunde. Das heißt:
Gesetze abstrahieren von den konkreten Umständen des Einzelfalles,
Gesetze generalisieren von den Personen und
Gesetze implementieren in jede Norm einen abstrakt-generellen (Wenn)Voraus-setzungs- und (Dann)Rechtsfolgeteil.
Die Rechtsnorm, die die gesuchte Rechtsfolge jedes juristischen Falles abstrakt enthält, ist die Antwortnorm. Eine Antwortnorm ist ein Spezialgesetz, aus dem die Rechtsfolge (Dann), die in der straf- oder zivilrechtlichen Aufgabenstellung verlangt wird, selbst und unmittelbar aufgrund des Sachverhaltes hergeleitet werden kann.
Wichtigste Antwortnormen auf die Fallfrage, ob ein Bürger von einem anderen Bürger im Privatrecht etwas verlangen kann, sind die sog. Anspruchsgrundlagen.
Im StGB sind die Straftatbestände des besonderen Teils die Antwortnormen, deren Rechtsfolgen mit der strafrechtlichen Fallfrage korrespondieren.
Wir haben schon festgestellt, dass es Aufgabe und Zweck der Rechtsordnung ist, das menschliche Zusammenleben zu regeln. Das konkrete Mittel zu diesem Zweck der Regelung ist die einzelne Rechtsnorm, das Gesetz. Es stellt die Voraussetzungen auf und enthält eine Rechtsfolge, die sich auf das Verhalten von Personen bezieht, wobei insbesondere Gebote und Verbote normiert werden. Ein Teil dieser Rechtsordnung ist das StGB, ein anderer das BGB.
- Wenn Moni den Tatbestand des Diebstahls rechtswidrig und schuldhaft erfüllt hat (Deliktsaufbau: Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld) – dann wird sie bestraft. Antwortnorm ist § 242 StGB.
- Wenn Max den Moritz rechtswidrig und schuldhaft am Körper verletzt hat (Tatbestandsvoraussetzungen) – dann muss er die entstandenen Kosten bezahlen. Antwortnorm ist § 823 Abs. 1 BGB.
- Wenn Susanne mit Bäcker Kraus einen wirksamen Kaufvertrag abgeschlossen hat – dann muss sie den vereinbarten Kaufpreis zahlen. Antwortnorm ist § 433 Abs. 2 BGB.
Wenn als erste Voraussetzung für das Vorliegen eines Straftatbestandes die haargenaue Erfüllung sämtlicher Tatbestandsmerkmale des besonderen Teils des Strafgesetzbuches und für das Vorliegen einer Anspruchsgrundlage im BGB die hundertprozentige Erfüllung sämtlicher Anspruchsvoraussetzungen erforderlich ist, so kann das selbstverständlich nicht heißen, dass der Tatbestand im Einzelnen die konkrete Straftat der konkreten Täterin „Moni“ beschreiben muss oder die Anspruchsgrundlage genau den zu entscheidenden zivilrechtlichen Fall für „Moritz“ oder „Bäcker Kraus“ festlegt.
§ 242 StGB (Diebstahl) lautet nicht:
„Wenn Moni der Steffi die Brieftasche aus der Handtasche zieht, um das Geld zu verjubeln, dann wird sie mit Gefängnis bestraft.“
Statt „Moni“ steht im Gesetz: „wer“; statt „Steffi“: „einem anderen“; statt „Steffis Brieftasche“ heißt es: „eine fremde bewegliche Sache“; statt „aus der Handtasche zieht“: „wegnimmt“; statt „um es zu verjubeln“ lautet es: „in der Absicht, sie sich rechtswidrig zuzueignen“.
§ 823 Abs. 1 BGB lautet nicht: „Wenn Max den Moritz durch Missachtung der Vorfahrt schwer verletzt, dann muss er Krankenhauskosten und Verdienstausfall in Höhe von 1.000 € bezahlen“.
Statt „Max“ heißt es abstrakt: „wer“; statt „Moritz“ „einen anderen“; statt „schwer verletzt“ heißt es: „den Körper und die Gesundheit … verletzt“; statt „durch Missachtung der Vorfahrt“ steht geschrieben: „vorsätzlich oder fahrlässig“ und „widerrechtlich“; statt „Krankenhauskosten und Verdienstausfall“ heißt es: „Ersatz des daraus entstehenden Schadens“.
§ 433 Abs. 2 BGB lautet nicht: „Wenn Susanne bei Bäcker Kraus zwei Brötchen kauft, dann muss sie 1 € zahlen.“
Statt „Susanne“ steht im Gesetz: „der Käufer“; statt „Bäcker Kraus“: der „Verkäufer“; statt „zwei Brötchen“: „eine Sache“; statt „1 €“: „den Kaufpreis“; statt „dann muss sie zahlen“: „ist verpflichtet, den Kaufpreis zu zahlen“.
Kein Gesetzgeber könnte sämtliche Fälle, die das Leben schreibt, vorausdenken – immer wieder müsste er sich durch die Wirklichkeit korrigieren lassen. Also wählte man für die Rechtsnormen sowohl auf der Voraussetzungs- als auch auf der Rechtsfolgenseite abstrakte und generalisierende Begriffe, da Gesetze als allgemeine Regeln notwendig von den konkreten Umständen des Einzelfalles (deshalb abstrakt) und den handelnden Personen (deshalb generalisierend) absehen müssen. Es gibt kein Gesetz, das gerade und genau für den konkreten Fall „Moni“, „Moritz“ oder „Bäcker Kraus“ geschaffen ist. Allerdings gibt es verschiedene Grade von Abstraktheit. Unsere modernen Gesetze zeichnen sich durch eine starke Abstraktion aus. Aus dieser notwendigen abstrakt-generalisierenden Begrifflichkeit der Normen folgt „not“-wendig, dass die Voraussetzungen des Gesetzes zur Anwendung auf den konkreten „Fall“ ausgelegt, entfaltet und definiert werden müssen. Diese Arbeit ist eine Hauptaufgabe des Juristen und wir werden sie gleich kennen lernen. Der Preis für die Abstraktheit ist eben, dass kein Gesetz so genau formuliert werden kann, dass sich damit jeder Fall, der irgendwann auftaucht, ohne weiteres lösen lässt. Das konkrete Leben bricht immer wieder mit „Monis“, „Susannes“ und „Mäxen“ in die abstrakten Gesetze ein. Das Recht hat ständig und ausschließlich mit einbrechendem Leben zu tun – mit Fällen. Sie, ausschließlich sie, füttern den täglichen Entscheidungsapparat für die Rechtsprechung in den Gerichten. Dabei sind Recht und Gesetz Gefangene der jeweiligen Zeit. Der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liegt weder in der Gesetzgebung, noch in der Rechtswissenschaft, noch in der Rechtsprechung, sondern in der pulsierenden Gesellschaft selbst. Und unsere Gesetze reagieren und regieren immer mit dem gleichen Programm: Wenn – dann! Wenn – dann! Wenn – dann; ihrem Konditionalprogramm.
Neben dem Hauptwesensmerkmal „Konditionalprogramm“ enthalten die Gesetze noch ein paar weitere Wesensmerkmale:
Gesetze regeln immer einen Interessenkonflikt. Also liegt ihr Wesen im Lösen solcher Konflikte: Interessen der Eigentümer gegen Interessen der Besitzer; Interessen der Gläubiger gegen Interessen der Schuldner; Interessen der Vermieter gegen die der Mieter; die der Käufer gegen die der Verkäufer; Interessen der Arbeitgeber gegen die der Arbeitnehmer; Interessen der Verbraucher gegen die der Unternehmer.
Gesetze enthalten immer eine allgemeinverbindliche Regelung. Sie regeln eine unbestimmte Vielzahl von Fällen für jeden gleich, damit gleiche Interessenkonflikte auch gleich entschieden werden. Deshalb sind sie auch so abstrakt! Aber gerecht!
Gesetze sind immer sanktionsbewehrt, anderenfalls wären sie „zahnlose Tiger“. Sie müssen dafür Sorge tragen, dass sie zwangsweise durchgesetzt werden können. Recht ohne Durchsetzungsapparat führt zur Anarchie. Wichtigste Sanktionen sind Strafen (StGB), Bußen (OWiG) und die Vollstreckungsmöglichkeiten in der StPO und der ZPO bei Zuwiderhandlungen oder Nichthandlungen. Allerdings: Wichtiger als die Zwangsanwendung ist die freiwillige Gesetzesbefolgung durch die Bürger. Weit mehr Strafgesetze werden beachtet als verletzt; weit mehr Verträge werden gehalten als gebrochen; weit mehr Schuldner leisten auch ohne Gerichtsvollzieher; weit mehr Verwaltungsakte werden befolgt als missachtet. Die Rechtsnormen entfalten nämlich häufig allein durch ihre Existenz ihre Wirkung.
Gesetze gelten nur, wenn sie rechtmäßig sind (legal). Auf die Akzeptanz der Rechtsunterworfenen kommt es letztlich nicht an. Eine Rechtsnorm muss, um ihre Rechtsfolgen auslösen zu können, wirksam sein, d.h. es müssen bestimmte Wirksamkeitsvoraussetzungen vorliegen und es dürfen keine Unwirksamkeitsgründe entgegenstehen. Solche können sich aus höherrangigem Recht ergeben. Für diesen sogenannten „Geltungsvorrang“ kommt es auf die hierarchische Rangordnung der Rechtsnormen an, ihr Ranking. Dieses „ranking“ der Rechtsquellen ist keineswegs unwichtig. Denn das jeweils höherrangige Recht entscheidet über die Geltungsbedingungen des niederrangigen Rechts. Verstößt die niederrangige Norm gegen die Wirksamkeitsbedingungen der höherrangigen Norm, so ist sie nichtig. Im Verhältnis zur Verfassung gilt allerdings, dass ein Richter, der eine Norm auf einen bestimmten Lebenssachverhalt anwenden muss, zwar überprüfen darf, ob dieses Gesetz gegen die Verfassung verstößt, diese Frage bejahendenfalls aber dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung darüber vorlegen muss. Dieses stellt dann generell für alle die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit fest. Kurz gesagt: Der Richter hat zwar die Prüfungskompetenz, nicht aber die Verwerfungskompetenz (so Art. 100 GG). Für den Rechtspfleger gilt Art. 100 GG nicht; er muss die Frage gem. § 5 RPflG dem Richter vorlegen, der dann das Weitere veranlasst.
Übrigens: Gesetze sind manchmal genialer und sprachlich schöner als man anfangs glauben mag. Ein Beispiel für die Genialität des Gesetzgebers ist Artikel 20 Abs. 1 GG: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“
Neun Wörter von faszinierender Wucht und Bedeutung, gemeißelt fast für die Ewigkeit:
„Die Bundesrepublik Deutschland“: der Name unseres Staates
„…republik …“: unsere republikanische Staatsform (Staatsoberhaupt Bundespräsident wird gewählt)
„Bundesstaat“: der bundesstaatliche, föderalistische Aufbau unseres Staates in Bund und Ländern
„… demokratischer …“: das Demokratiegebot, bestehend aus:
Rechtsstaatsprinzip (keine Demokratie ohne Rechtsstaat)
Volkssouveränität (bei einer Demokratie geht die Staatsgewalt vom Volk aus)
Gewaltenteilung (Wesensmerkmal der Demokratie, näher dargelegt in Art. 20 Abs. 2 GG)
„… sozialer …“: das Sozialstaatsprinzip
Auch Gesetze können eine Ästhetik haben und manchmal richtig schön sein. Neun Wörter – fünf elementare, fundamentale, leuchtende Prinzipien. Neun Wörter umschreiben den gesamten Charakter unseres Staates. Prägnanter, kürzer und schöner kann man es kaum formulieren.
Man kann die Gesetze auch noch auf eine andere Art als mit dem Dietrich des Konditionalprogramms öffnen! Dazu bedienen wir uns einer List in Form einer Seziertechnik.
Diese „Gesetzesentschlüsselungstechnik“ ist raffiniert einfach und einfach raffiniert. Mit ihr schaffen Sie es, den stummen Sprachwerken die Zunge zu lösen. Wenn Sie die äußerst komprimierten, häufig mehrere Alternativen enthaltenden Gesetzesformulierungen in ihren jeweiligen Voraussetzungs-Rechtsfolgen-Segmenten nicht auf Anhieb verstehen, in denen manchmal auch noch neben der Regel die Ausnahme sprachlich eingewoben ist, „sezieren“ Sie die Paragraphenungeheuer! Alphabetisieren Sie die Normen auf ein Ihnen verständliches Sprachniveau herunter, und Sie werden sehen, die Gesetze verlieren schlagartig an Kompliziertheit. Sie haben einen Paragraphen erst dann richtig begriffen, wenn Sie ihn in seine kleinsten Einzelteile zerlegen und wieder zusammenbauen können.
Machen Sie bitte mal mit und schlagen Sie die genannten Paragrafen auf.
Ein erstes Beispiel aus dem BGB:
Als erstes Beispiel möge der § 181 BGB dienen, über den insoweit Einigkeit besteht, als dass ihn auf Anhieb niemand versteht. Er wird bald unausweichlich auf Sie zukommen. Lesen Sie bitte diesen Paragraphen! Machen Sie jetzt mit mir „mehr“ aus dem Paragraphen! Aus eins machen wir drei! Wir spielen jetzt Gesetzgeber und formulieren ihn um, indem wir seine Alternativen zu neuen Paragraphen bündeln, „§§ 181 a, 181 b, 181 c BGB“, und ihn so neu gestalten:
§ 181 a: Ein Vertreter kann im Namen des Vertretenen mit sich im eigenen Namen ein Rechtsgeschäft nicht vornehmen (Insichgeschäft).
§ 181 b: Ein Vertreter kann im Namen des Vertretenen mit sich als Vertreter eines Dritten ein Rechtsgeschäft nicht vornehmen (Mehrfachvertretung).
§ 181 c: In Abweichung der §§ 181 a, 181 b kann ein Vertreter selbstkontrahieren oder eine Mehrfachvertretung doch vornehmen, wenn
1. es ihm gestattet ist oder
2. das Rechtsgeschäft ausschließlich in der Erfüllung einer Verbindlichkeit besteht oder
3. es rechtlich lediglich vorteilhaft ist (ständige Rechtsprechung).
Die Rechtsfolge ist übrigens trotz seines Wortlautes „kann nicht“ nicht die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts, sondern entsprechend § 177 BGB schwebende Unwirksamkeit.
Ein zweites Beispiel aus dem Strafrecht:
Wenn Sie im Strafrecht zu § 267 StGB (Urkundenfälschung) gelangen, ein gesetzgeberisches Meisterwerk an sprachlicher Dichte, nehmen Sie sich zunächst genügend Zeit, diese Norm zu studieren. Versuchen Sie einmal, aus den drei Alternativen dieses Straftatbestandes drei selbständige Paragraphen zu texten. Schnell und mit kreativer Entdeckerfreude haben Sie die fiktiven „§§ 267 a, 267 b, 267 c StGB“ erschlossen.
§ 267 a: Wer zur Täuschung im Rechtsverkehr eine unechte Urkunde herstellt, wird bestraft.
§ 267 b: Wer zur Täuschung im Rechtsverkehr eine echte Urkunde verfälscht, wird bestraft.
§ 267 c: Wer zur Täuschung im Rechtsverkehr eine unechte oder verfälschte Urkunde gebraucht, wird bestraft.
Nunmehr stellen Sie die Tatbestandsmerkmalspakete zusammen und arbeiten die Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus:
§ 267 a: Urkunde – zur Täuschung im Rechtsverkehr – unechte herstellen.
§ 267 b: Urkunde – zur Täuschung im Rechtsverkehr – echte verfälschen.
§ 267 c: Urkunde – zur Täuschung im Rechtsverkehr – unechte oder verfälschte gebrauchen.
Ein letztes Beispiel aus dem Sachenrecht des BGB:
Zur Überprüfung der gelernten „Seziertechnik“ wollen wir jetzt § 873 Abs. 1 BGB in die „§§ 873 a, 873 b, 873 c, 873 d und 873 e BGB“ sezieren. Wir erarbeiten ganz stur für jede „verkeilte“ Alternative das jeweilige sezierte Konditionalprogramm! Erst mal § 873 Abs. 1 BGB lesen! Und jetzt geht es los:
§ 873 a: „Zur Übertragung des Eigentums an einem Grundstück ist die Einigung des Berechtigten und des anderen Teils über den Eintritt der Rechtsänderung und die Eintragung der Rechtsänderung in das Grundbuch erforderlich.“
§ 873 b:„Zur Belastung eines Grundstücks mit einem Rechte ist die Einigung … und die Eintragung … erforderlich.“
§ 873 c:„Zur Übertragung eines belastenden Rechtes (vgl. § 873 b) ist die Einigung … und die Eintragung … erforderlich.“
§ 873 d: „Zur Belastung eines belastenden Rechtes (vgl. § 873 b) ist die Einigung … und die Eintragung … erforderlich.“
§ 873 e: „Die Paragraphen 873 a bis 873 e gelten nicht, wenn das Gesetz ein anderes vorschreibt.“
Sie stellen nach den drei Beispielen jetzt viel besser als vorher fest, was die Alternativen des Gesetzes sind, was sie verbindet und was sie trennt. Sie sehen, wie sich die sezierte Norm von selbst öffnet und ihren Inhalt preisgibt. In Zukunft können Sie mit der Seziertechnik und dem Konditionalprogramm selbst die Gesetze auseinandernehmen, aufschlüsseln oder umprogrammieren, kurz und klein stutzen oder anwachsen lassen. Der Charme dieser Gesetzesaufschlüsselungstechnik besteht darin, dass sie so einfach ist und immer funktioniert. Sie werden sie hoffentlich nicht mehr vergessen.
Wenn Sie ab jetzt ein neues Gesetz oder ein neues Rechtsinstitut angehen, abstrahieren Sie es zunächst von allen momentan unwichtigen Details in den Absätzen 1 bis 5. Lesen Sie dann mit dem Zeigefinger mehrmals nur Absatz 1 des Gesetzes – Wort für Wort! Ziehen Sie alles Unwichtige ab! Steigen Sie ein ins Gesetz! Öffnen Sie das Gesetz mit dem „Konditionalprogramm“: Wenn-Dann! Präparieren Sie mit dem „Sezierbesteck“ die einzelnen Bausteine der Tatbestandsmerkmale heraus! Was will das Gesetz regeln? – Was ist sein télos? – Was sind seine Tatbestandsmerkmale? – Was ist seine Rechtsfolge?
Das Lernen von Jura besteht in der Erarbeitung einer juristischen Kunstfertigkeit zur Auslegung, Deutung, Übersetzung und Erklärung von Gesetzen, um dann Lebenssachverhalte diesen Gesetzen sicher, präzise und klar zuordnen zu können. Dieses auslegende Verfahren ist nicht nur die Methode der historischen und philosophischen Geisteswissenschaftler und der schriftgelehrten theologischen Wissenschaftler, sondern auch die richtige Methode für uns „Gesetzeswissenschaftler“. Gesetz ist eben nicht nur Sprache, sondern immer ein Stück Interpretation und Auslegung. Ich komme bald darauf zurück.