1. Abgrenzung zum positiven Tun
Die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen ist meistens unproblematisch.
Emma erwürgt ihr Kind.
Die Begehungstäterin Emma setzt einen Kausalverlauf aktiv in Gang.
Emma führt ihrem Kind keine Nahrung mehr zu.
Die Unterlassungstäterin Emma lässt einen anderweitig begonnenen Kausalverlauf geschehen, sie unternimmt nichts gegen ihn.
Positives Tun und Unterlassen können sich aber auch „mischen“, so dass man nicht weiß, welcher Teil der mehrdeutigen Verhaltensweise den entscheidenden Anknüpfungspunkt für die strafrechtliche Frage „Tun oder Nichttun?“ bildet.
Da für alle Juristen so eine Art gemeinsamer Fall-Fundus existiert, will ich Ihnen den berühmten „Ziegenhaar-Fall“ erzählen, der zu diesem ewigen Juristen-Fundus dazugehört:
Der Fabrikant F hatte für seine Pinselfabrik chinesische Ziegenhaare importiert und diese trotz der Mitteilung des Händlers, dass er sie desinfizieren müsse, ohne vorherige Desinfektion an seine Arbeiterinnen weitergegeben. Vier Arbeiterinnen wurden durch Milzbrandbazillen, mit denen die Haare behaftet waren, angesteckt und starben an Milzbrand.
Das Ausgeben der infizierten Ziegenhaare könnte für eine Qualifikation als positives Tun sprechen (§ 222 StGB), die nicht vorgenommene Desinfektion für eine Einstufung als Unterlassen (§§ 222, 13 StGB).
Die ganz h.M. grenzt in solchen Konstellationen danach ab, wo bei wertender (normativer) Betrachtung der Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens liegt. Der lag im „Ziegenhaarfall“ eindeutig auf dem erfolgverursachenden positiven Tun.
Bei Fahrlässigkeitstaten – wie hier gem. § 222 StGB in vier Fällen – ist das jeweils denkbare Unterlassen nichts anderes als das für die „Fahrlässigkeit“ notwendig vorausgesetzte Unterlassen in Form des „Außerachtlassens“ derjenigen Sorgfalt, zu der der Täter verpflichtet ist. Ein Fahrlässigkeitsdelikt ohne Unterlassen gibt es gar nicht!
Bei Vorsatzdelikten gilt das gleiche Abgrenzungskriterium: Wo liegt der Schwerpunkt des strafrechtlichen Vorwurfs? Zwei Fälle können hier problematisch werden: Abbruch von Rettungsmaßnahmen und der Behandlungsabbruch bei unheilbar Kranken.
Bezüglich dieser beiden Fälle an den extrem glatten juristischen Kletterstangen ist auf die Literatur zu verweisen.
2. Entsprechungsklausel (Gleichwertigkeitskorrektiv)
Nach § 13 Abs. 1 a.E. StGB soll das Unterlassen nur strafbar sein, wenn es der Tatbestandsverwirklichung durch Tun „entspricht“. Diese „Entsprechungsklausel“ hat für reine Erfolgsdelikte (§§ 212, 223) keine Bedeutung und braucht von Ihnen nicht erörtert zu werden, weil nur die Verursachung eines Außenerfolges ohne Rücksicht auf das „Wie“ strafbar ist. Anders ist es aber bei Straftatbeständen, die besondere Handlungsweisen voraussetzen, bei denen es also vorwiegend auf dieses „Wie“ ankommt (Heimtücke, Grausamkeit bei § 211; Täuschung bei § 263; hinterlistiger Überfall bei § 224). Hier müssen Sie prüfen, ob das Unterlassen eine dem Tun entsprechende, gleichwertige Prägung besitzt, ob es also genauso heimtückisch und grausam ist, ein Kind zu ersticken wie es verhungern zu lassen. (Im Regelfall: Ja!)
3. Rechtswidrigkeit
Mit der Tatbestandserfüllung ist auch bei Unterlassungsdelikten die Rechtswidrigkeit indiziert, es sei denn …
Besondere Bedeutung gewinnt hier ein nicht kodifizierter Rechtfertigungsgrund.
Beispiel 1: Bei einem Segeltörn fallen gleichzeitig der Sohn Jupp und die Ehefrau Emma über Bord. Vater Peter rettet nur Jupp – Emma ertrinkt.
Beispiel 2: Gleicher Segeltörn: Ehefrau Emma und unbekannter Tourist Otto fallen
ins Wasser. Peter rettet Emma.
Beispiel 3: Gleicher Segeltörn: Ehefrau Emma und unbekannter Tourist Otto fallen ins Wasser. Peter rettet Otto!
Im ersten Beispiel ist die Tat der Tötung der Emma, begangen durch Unterlassen gem. §§ 212, 13 StGB, aufgrund einer gewohnheitsrechtlich rechtfertigenden Pflichtenkollision (Pflicht gegenüber dem Leben des Jupp kollidiert mit der Pflicht gegenüber dem Leben der Emma; § 1631 BGB gegen § 1353 BGB) nicht strafbar. Dies gilt hier entgegen § 34 StGB (!) auch bei der Kollision gleichartiger und gleichwertiger Rechtsgüter.
Im zweiten Beispiel liegt keine Pflichtenkollision vor. Hier verdrängt die dem Garanten Vater Peter nur gegenüber seiner Ehefrau obliegende spezielle Rettungspflicht die dem Dritten Otto gegenüber bestehende allgemeine Hilfeleistungspflicht aus § 323c StGB.
Im dritten Beispiel stehen wir vor echten Problemen: Die Handlungspflicht aus seiner spezielleren Garantenpflicht kollidierte mit seiner allgemeinen Handlungspflicht aus § 323c StGB. Hier wird man wohl eine „entschuldigende Pflichtenkollision“ als Schuldausschließungsgrund anerkennen müssen.
4. Teilnahme an Unterlassungsdelikten
Teilnahme durch aktives Tun am Unterlassungsdelikt
Liebhaber Reiner schlägt Ehefrau Emma vor, den volltrunken im kalten Schnee liegenden Ehemann Jupp erfrieren zu lassen. Das geschieht.
Emma: §§ 212 (211), 13 StGB
Reiner: §§ 212, 13, 26: Anstiftung durch positives Tun zum Totschlag durch Unterlassen
Beteiligt sich jemand durch Tun an einem Unterlassungsdelikt, ist Täterschaft und Teilnahme nach den allgemeinen Regeln möglich.
Teilnahme durch Unterlassen am Begehungsdelikt oder Unterlassungsdelikt
Anstiftung (§ 26 StGB) durch Unterlassen scheidet aus, da ein Hervorrufen des Entschlusses („bestimmen“) nicht denkbar ist durch Nichttun.
Beihilfe (§ 27 StGB) durch Unterlassen ist allerdings denkbar.
Nachtwächter Jupp schreitet bei einem Einbruchsdiebstahl nicht ein, weil er seinen Chef ärgern will. Mutter schreitet gegen sexuellen Missbrauch ihrer Tochter nicht ein.
Beihilfe (§ 27 StGB) durch Unterlassen an einem Begehungs- oder auch Unterlassungsdelikt ist möglich, sofern der Gehilfe (Nachtwächter, Mutter) eine Garantenstellung bezüglich des Rechtsgutes der fremden Straftat hat.
5. Der Versuchsbeginn bei unechten Unterlassungsdelikten ist höchst umstritten.
Wenn die Mutter ihrem Kind mit Tötungsvorsatz die Nahrung vorenthält (gleiches gilt für Pflegepersonal im Altenheim!), so ist fraglich,
ob man auf das Verstreichenlassen der ersten oder auf das Verstreichenlassen der letzten Rettungsmöglichkeit abstellt
oder nur darauf abhebt, ob das geschützte Rechtsgut durch das Nichthandeln unmittelbar gefährdet ist (wohl richtig, da Begehungsdelikten entsprechend).
Also beginnt der Versuch der Rabenmutter Ottilie Huber nicht schon dann, wenn sie erstmals die Nahrung vorenthält, aber auch nicht erst beim letzten Unterlassen der Nahrungszufuhr, die dann unmittelbar in die Vollendung der Tötung übergeht, sondern dann, wenn das Kind in seinem Weiterleben akut gefährdet ist.