Wie oben schon angedeutet, stellen die verschiedenen Arten des Irrtums nicht die einzigen Anfechtungsgründe dar. Vielmehr berechtigen gem. § 123 Abs. 1 auch die arglistige Täuschung (1. Alt.) und die widerrechtliche Drohung (2. Alt.) zur Anfechtung.
Beide Fälle sind dadurch gekennzeichnet, dass bei ihnen Wille und Erklärung des Erklärenden deswegen auseinanderfallen, weil der Vertragspartner oder ein Dritter auf den Willen des Erklärenden Einfluss nimmt und so bewirkt, dass dieser eine Erklärung abgibt, die er tatsächlich nicht abgeben will. Es handelt sich daher ebenfalls um gesetzlich geregelte Fälle von Willensmängeln. Damit soll die Freiheit der Willensentschließung geschützt werden
● Die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung
Beispiel: Im obigen Beispielsfall d. weiß Windig genau, dass der Wagen 191.400 km gelaufen ist. Auf Nachfrage von Felix verweist er lediglich auf den Kilometerzähler.
Die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung setzt zunächst eine Täuschungshandlung voraus. Das ist ein Verhalten, das durch Vorspiegelung falscher Tatsachen darauf abzielt, in einem anderen einen Irrtum hervorzurufen, zu bestärken oder zu unterhalten. Dies tut Windig im obigen Beispiel durch den Hinweis auf den (falschen) Kilometerstand.
Streng genommen stellt die durch § 123 Abs. 1 eingeräumte Möglichkeit der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung also eine Ausnahme von dem Grundsatz dar, dass ein Motivirrtum nicht zur Anfechtung berechtigt. Denn der durch die Täuschung hervorgerufene Irrtum ist regelmäßig ein „Irrtum im Beweggrund“ (Motivirrtum).
Die Entscheidung des Erklärenden muss auf dieser Täuschung – über den durch sie erregten (Motiv-)Irrtum – beruhen, sie muss also für den Irrtum und damit für die Abgabe seiner Willenserklärung ursächlich (kausal) sein. Im Beispielsfall bewirkt die Erklärung des Windig den Irrtum bei Felix, der wiederum bewirkt, dass Felix den Wagen kauft.
Schließlich besagt das Tatbestandsmerkmal „arglistig“, dass der Täuschende vorsätzlich handeln muss. Vorsatz bedeutet Folgendes: Er muss „wissen und wollen“, dass er seinen Vertragspartner täuscht, dieser sich daraufhin irrt und aufgrund des Irrtums eine Willenserklärung abgibt, die er ohne den Irrtum so nicht abgegeben hätte. Dies ist im Beispielsfall ohne weiteres anzunehmen.
● Die Anfechtung wegen widerrechtlicher Drohung
Beispiel: Nach einem Verkehrsunfall verlangt der geschädigte Felix Flott von dem Unfallgegner Rudi Rasant, der den Unfall verschuldet hat, dass dieser ein Schuldanerkenntnis unterschreibe. Er droht damit, ansonsten
a. Rudi zusammenzuschlagen,
b. die Polizei zu verständigen, die dann auch feststellen werde, dass Rudi vor der Fahrt Alkohol getrunken habe.
Daraufhin unterschreibt Rudi das Schuldanerkenntnis.
Eine Drohung liegt vor, wenn jemand ein zukünftiges Übel in Aussicht stellt und – im Gegensatz zur bloßen Warnung – dabei erklärt, auf den Eintritt des Übels Einfluss zu haben. In beiden obigen Beispielsfällen a. und b. liegt demnach eine Drohung vor, weil sowohl die Schläge als auch die Aufdeckung der Alkoholfahrt durch die Polizei für Rudi ein zukünftiges Übel darstellen, dessen Eintritt (nach seinen Worten) von Felix‘ Willen abhängt.
Diese Drohung muss für die Abgabe der Willenserklärung kausal gewesen sein. Das heißt, dass die Erklärung trotz Vorliegens einer Drohung nicht anfechtbar ist, wenn der Erklärende sie ohnehin abgegeben haben würde. In den Beispielsfällen kann Rudi demnach seine Erklärung nicht anfechten, wenn er ohnehin die Absicht hatte, sie zu unterschreiben, etwa weil er als Alleinschuldiger des Unfalles dies für moralisch angebracht hielt.
Schließlich ist die erforderliche Widerrechtlichkeit zu erörtern. Der Bedrohte muss nämlich nach dem Gesetzeswortlaut „widerrechtlich durch Drohung“ zur Abgabe seiner Willenserklärung bestimmt worden sein.
Hierbei ist zwischen drei Fallgruppen zu unterscheiden, auf die hier aber nur kurz hingewiesen werden soll:
Der Drohende handelt widerrechtlich, wenn
das eingesetzte Mittel widerrechtlich ist oder
der erstrebte Zweck der Drohung widerrechtlich ist oder
der Einsatz eines an sich rechtmäßigen Mittels zur Erreichung eines an sich rechtmäßigen Zieles widerrechtlich ist, weil gerade die Verbindung beider Elemente die Widerrechtlichkeit ausmacht (Widerrechtlichkeit der sog. „Mittel-Zweck-Relation“).
In der Fallvariante a. besteht ein Anfechtungsgrund, weil das eingesetzte Mittel der Schläge widerrechtlich ist (§ 223 StGB; § 823 Abs. 1): Der vorangegangene Unfall gibt Felix nicht das Recht, durch körperliche Gewalt den Zweck der Anerkennung eines bestehenden Anspruches zu erzwingen. Der mit der Drohung angestrebte Zweck ist nicht widerrechtlich, weil Rudi den Unfall verschuldet hat und daher verpflichtet ist, den Schaden zu ersetzen (§§ 7 StVG, 823 Abs. 1).
In der Fallvariante b. besteht ein Anfechtungsrecht nicht, weil Felix – wie jeder Unfallbeteiligte – berechtigt ist, den Hergang des Unfalles durch die Polizei ermitteln und festhalten zu lassen. Das Mittel ist genauso rechtmäßig wie der Zweck der Drohung.
Ein Beispiel für die Fallgruppe c. liegt vor, wenn Felix mit der Einschaltung der Polizei für den Fall droht, dass Rudi eine längst fällige Darlehensschuld nicht sofort zurückzahlt. Auch hier sind zwar Mittel und Zweck der Drohung, für sich betrachtet, jeweils rechtmäßig, die Verbindung jedoch nicht, da die Darlehensrückzahlung in keinerlei Zusammenhang zum Unfall steht.
Für beide Fallgruppen dieses Abschnittes gilt noch Folgendes: Auch im Falle der Anfechtung wegen Täuschung oder Drohung gem. § 123 Abs. 1 tritt die rückwirkende Nichtigkeit gem. § 142 Abs. 1 nur ein, wenn die oben für die Irrtumsfälle ausführlich dargelegten weiteren Voraussetzungen vorliegen. So muss eine Anfechtungserklärung (§ 143 Abs. 1, 142 Abs. 1, 133, 157) abgegeben werden und zwar wirksam dem Anfechtungsgegner gegenüber (§ 130 Abs. 1), dessen Person anhand der Vorschriften des § 143 Abs. 2 bis 4 zu ermitteln ist.
Abweichendes gilt lediglich für die Anfechtungsfrist. Sie beginnt gem. § 124 Abs. 2 S. 1 erst mit der Entdeckung der Täuschung bzw. dem Ende der Zwangslage und beträgt gem. § 124 Abs. 1 ein Jahr. Einzelheiten zum Lauf dieser Frist regelt § 124 Abs. 2 S. 2 durch Verweisung auf bestimmte Vorschriften des Verjährungsrechtes. Der Drohende und Täuschende müssen länger als der durch Irrtum Beeinflusste (§ 121) das Damoklesschwert der Anfechtung fürchten!
Auch wenn bis dahin z.B. die Täuschung noch nicht bemerkt worden sein sollte, kann nach Ablauf von 10 Jahren seit Abgabe der Willenserklärung eine Anfechtung nicht mehr erfolgen (§ 124 Abs. 3).
Kleiner Trainingsfall! Denken Sie dran: „Use it or lose it!“
V erklärt wider besseres Wissen, dass der zum Verkauf angebotene Porsche „garantiert unfallfrei“ sei. Daraufhin kauft K den Porsche zu 20.000 €. Eine Woche später trifft K den ursprünglichen Ersteigentümer, der ihm eröffnet, dass der Wagen einen schweren Unfall erlitten habe. K tritt nunmehr seinen lange geplanten sechswöchigen Urlaub zu den Fidschi-Inseln an.
Nach Rückkehr verlangt er von V Rückzahlung der 20.000 €. Zu Recht?
K gegen V: § 812 Abs. 1 S. 1 1. Alt.
1. V hat gem. § 929 S. 1 Eigentum und Besitz am Geld i.H.v. 20.000 €, also ein Etwas, erlangt.
2. Diese Rechtsposition hat er – V – auch durch die Leistung des K, nämlich durch dessen zweckgerichtete Vermehrung des Vermögens des V in Erfüllung des bestehenden Kaufvertrages, erlangt.
3. Als Rechtsgrund für diese Vermögensverschiebung kommt der Kaufvertrag zwischen V und K in Betracht.
Der ursprünglich wirksame Vertrag könnte gem. § 142 Abs. 1 wirksam angefochten und somit rückwirkend nichtig geworden sein.
a. Anfechtungserklärung: gem. §§ 133, 157 das Rückzahlungsverlangen
b. Wirksamwerden: § 130 Abs. 1
c. Adressat: § 143 Abs. 2: V
d. Anfechtungsgrund
da. § 123 Abs. 1
● Täuschung
● Arglist
● Kausalität
db. § 119 Abs. 2
● Eigenschaftsirrtum
● Verkehrswesentlichkeit
● Kausalität
e. Anfechtungsfrist
ea. zu § 119 Abs. 2
Gem. § 121 ist die Frist versäumt (nicht unverzüglich)
eb. zu § 123 Abs. 1
Gem. § 124: fristgemäß (1 Jahr)
Also: Ohne Rechtsgrund
Also: K gegen V: § 812 Abs. 1 S. 1 1. Alt. schlüssig.