Bekommt man es wie Sie mit der Rechtswissenschaft zu tun, können damit drei verschiedene Dinge gemeint sein, durch die wir jetzt gemeinsam durch müssen:
1. Rechtswissenschaft heißt zunächst das Resultat wissenschaftlichen juristischen Arbeitens.
Das Ergebnis dieser wissenschaftlichen Tätigkeit schlägt sich dann in schriftlicher Form, z.B. in juristischen Aufsätzen, Büchern, Zeitschriften und Urteilskritiken nieder. Bei uns heißt das Resultat „Die juristische Literatur“ und findet sich seriös in den Bibliotheken der Unis und Gerichte wieder.
2. Rechtswissenschaft bezeichnet aber auch die organisatorische Zusammenfassung von lehrenden Personen (Jura-Dozenten und Jura-Professoren), lernenden Personen (Jura-Studenten) und Institutionen (juristische Fakultäten an Universitäten, Fachhochschulen, Institute).
In der Alltagssprache findet man die Aussage: „Es ist Aufgabe der Rechtswissenschaft …“. Diese Art der Rechtswissenschaft teilt sich in zwei Bereiche:
Zum einen das Sammeln, Vergleichen, Auswerten und Verwerfen von juristischem Wissen und seine didaktisch geschulte Weitergabe an die Jura-Studenten – also Sie (juristische Lehre).
Und zum anderen das Erschließen neuen theoretischen oder empirischen juristischen Wissens, das Vergleichen mit altem und benachbartem juristischem Wissen und die kritische Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung. Hier ist die Jurisprudenz auf Erkenntnissuche (juristische Forschung).
Beide Teilbereiche sollten von jeder rechtswissenschaftlichen Hochschule gleichermaßen (!) bedient werden. Werden sie aber nicht, da die Forschung zu stark die Lehre dominiert!
3. Rechtswissenschaft ist aber vor allem die Tätigkeit wissenschaftlich-juristischen Arbeitens. Darunter versteht man alle Bemühungen, um in organisierter, methodisch abgeleiteter Form systematisch Kenntnisse über „Gesetz und Recht“ zu sammeln, zu erforschen und auszuwerten. Dazu gehört das Erarbeiten eines vorgefundenen Stoffgebietes, wie bei uns das Recht und das Gesetz. Dazu gehört aber auch die kritische Auseinandersetzung mit den Aussagen und Ergebnissen dieser Disziplin – etwa denen der Rechtsprechung und juristischen Literatur – und schließlich die Weiterentwicklung dieser Erkenntnisse auch und gerade durch Studenten in Klausuren, Hausarbeiten und Referaten.
Unsere Rechtswissenschaft sollten wir zunächst in das allgemeine Bild der Wissenschaften eintäfeln. Ganz allgemein ist Wissenschaft das Streben nach Erkenntnis über einen bestimmten Gegenstand dieser Welt. Diese Erkenntnis kann man auch als „Wahrheit“ bezeichnen (ironisch: Wahrheit ist immer nur der vorläufig letzte gültige Irrtum). „Jede Tätigkeit, die nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit angesehen werden kann“, ist nach BVerfG 90, 1 (12) Wissenschaft. Da niemand alles wissen kann, ergab sich schon früh der Zwang, Teilbereiche des Strebens nach Erkenntnis über die Welt abzugrenzen. Auf diese Weise wurden die Felder einzelner Wissenschaften abgesteckt. Die exakte Abgrenzung ist freilich oft schwer, da die Übergänge fließend sind. Obwohl es keine allgemein anerkannte Systematik der Wissenschaft gibt, haben sich doch zwei verschiedene Einteilungen durchgesetzt:
- Eine erste Unterteilung grenzt die Formalwissenschaften von den Realwissenschaften ab.
Gegenstand der Formalwissenschaften, Mathematik und Logik sind die wichtigsten Beispiele, ist die Bildung und Verknüpfung von theoretischen Aussagen und das Ziehen von Schlüssen. Sie beschäftigen sich als theoretische oder „reine“ Wissenschaft mit abstrakten Aussagen ohne Bezug auf reale Erscheinungen.
Die Realwissenschaften (Biologie, Chemie, Physik, Psychologie, Soziologie) beschäftigen sich dagegen mit realen, also der Beobachtung prinzipiell zugänglichen, Erscheinungen als angewandte oder „praktische“ Wissenschaft.
Es ist nicht schwer zu erkennen, dass die Rechtswissenschaft, die sich um das Streben nach Wahrheit über den beobachtbaren Gegenstand „Recht“ bemüht, eher den Realwissenschaften zuzurechnen ist, wobei sie sich allerdings häufig der Formalwissenschaft „Logik“ bedient.
Eine zweite Unterscheidung grenzt die Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften ab.
Als Naturwissenschaften bezeichnet man alle Wissenschaften von der anorganischen und organischen Natur einschließlich der Naturbezogenheit von uns Menschen, also all das, was die „Natur“ erschaffen hat.
Ihnen werden die Geisteswissenschaften gegenüber gestellt. Gegenstand dieser Wissenschaften sind die verschiedenen Bereiche geistigen und kulturellen Lebens, also all das, was der „Geist“ erschaffen hat.
Zu den Geisteswissenschaften gehört auch die Rechtswissenschaft, da ihr Gegen-stand, das Recht, nach moderner Auffassung vom Menschen gesetzt wird.
Was macht die juristische Wissenschaft aus?
Angesichts der Unmöglichkeit, den scheinbar unumstößlichen, ewigen Naturgesetzen vergleichbare unumstößliche, ewige Rechtsgesetze entgegen zu setzen, will niemand (manche tun es doch) so vermessen sein, gleich der ganzen juristischen Disziplin, unserer Juristerei, den Wissenschaftscharakter abzusprechen. Obwohl – ein wenig entmutigen sie schon, die nicht immer einheitlichen Urteile der Gerichte quer durch die Republik und die sich schnell überholenden und manchmal auch sich widersprechenden Gesetze. Man blickt angesichts der Unmöglichkeit sicherer juristischer Urteile neidvoll auf die unvergänglichen, ewigen Gesetze der Naturwissenschaftler.
Jeder, der einmal mit einem Naturwissenschaftler darüber gesprochen hat, weiß, wie schwer es ist, diesem zu erläutern, was juristische Wissenschaft beinhaltet. Die Diskussion um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft existiert seit langem und ist ebenso wenig neu wie die Frage nach der Ausrichtung der rechtswissenschaftlichen Ausbildung hin zu mehr Wissenschaftlichkeit oder eher zu mehr Rechtsanwendung. Die Zeitgebundenheit und Relativität des Rechts sind allerdings von vornherein ein Problem der Rechtswissenschaft („Drei Worte des Gesetzgebers machen Bände von Rechtswissenschaft zur Makulatur“, v. Kirchheim). Auch die Fülle an Entscheidungen und die rasante Geschwindigkeit der Gesetzesänderungen, die die Rechtswissenschaft manchmal an der systematischen Ordnung hindern, stellen ein Problem für die Rechtswissenschaft dar. Dennoch dürfen die gewaltige Dynamik des internationalen, europäischen und nationalen Gesetzesausstoßes sowie die Explosion der gerichtlichen Entscheidungen die Rechtswissenschaft nicht in die Knie zwingen.
Die Rechtswissenschaft gliedert sich nach ihren unterschiedlichen Gegenständen und Inhalten in folgende zwei Unterbereiche:
- Die Rechtswissenschaft im engeren Sinn:
Was die Anforderungen anbelangt, lassen sich drei mögliche Funktionen der Rechtswissenschaft im engeren Sinn herausstellen:
Die normbeschreibende Funktion: Hierbei geht es vor allem darum, die Gesetze des materiellen Rechts auszulegen, darzustellen, zu systematisieren, zu kommentieren und zu zeigen, dass die bisherigen Normen einen (nicht) logischen, sich (nicht) widersprechenden Zusammenhang bilden.
Die normvorschlagende Funktion erfüllt eine soziale Steuerungsleistung, indem sie bei entstehenden gesellschaftlichen Fragestellungen dem Gesetzgeber Vorschläge für Regelungsmodelle durch Gesetze unterbreitet.
Die normkontrollierende Funktion der Rechtswissenschaft besteht darin, Gesetzgebung und Rechtspraxis durch Schaffung objektiver Maßstäbe kritisch zu bewerten und somit auch Aussagen über die Güte und Beständigkeit von Gesetzen und Urteilen zu treffen.
Leider begnügt sich die Rechtswissenschaft in aller Regel damit, das zu interpretieren und zu kontrollieren, was der Gesetzgeber und die Gerichte produzieren. In dieser rein deskriptiven Interpretation der Rechtswissenschaft haben sich die juristischen Fakultäten in Forschung und Lehre gut eingerichtet. Auf die Gesetzgebung nimmt die Rechtswissenschaft (normvorschlagende Funktion) leider ebenso wenig Einfluss wie auf die Beobachtung der Entstehung der sozialen Konflikte, auf die die Gesetze dann wirken sollen. Sie sollte ihrem eigenen Anspruch folgend mehr im ständigen „Dialog“ mit der Rechtsprechung, mit der Gesetzgebung und der gelebten sozialen Wirklichkeit stehen.
- Die Rechtswissenschaft im weiteren Sinn:
- Sie fächert sich auf in:
Rechtsgeschichte, die die Ursprünge des Rechts und seine geschichtliche Entwicklung behandelt. Aufgabe der Rechtsgeschichte ist es, die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze, Rechte und normativen Sätze für die unterschiedlichen Geschichtsepochen zu erforschen, darzustellen und zu erklären. Im Gegensatz zur Rechtsvergleichung stellt sie nicht die horizontalen, sondern die vertikalen Vergleiche an. - Rechtsvergleichung, die unterschiedliche Rechtssysteme auf internationaler Ebene gegenüberstellt. Ohne eine Grenzen überschreitende Rechtsvergleichung besteht die Gefahr der nationalen Engstirnigkeit.
- Rechtssoziologie, die feststellt, wie das Recht in der Realität ankommt und gelebt wird.
- Rechtsphilosophie, die das Wesen des Rechts zu erforschen versucht. Ein noch zu weites Feld! Im Zentrum der Rechtsphilosophie stehen Versuche, die „menschlichen“ Gesetze in einer übergeordneten Geltungssphäre zu verankern.
Sie haben es im Anfang Ihrer juristischen Ausbildung ganz überwiegend mit der „Rechtswissenschaft im engeren Sinn“ zu tun, da Sie sich mit der Anwendung und Auslegung von Gesetzestexten für das Gebiet BGB, StGB und Staats- und Verfassungsrecht sowie den entsprechenden Urteilen und der entsprechenden Literatur beschäftigen.
Auch die Bereiche der „Rechtswissenschaft im weiteren Sinn“ sollten Basisfächer für den Jurastudenten sein, die man zwar nicht zur Lösung von Klausuren benötigt, die man aber zum tieferen Verständnis des deutschen und des europäischen Rechts braucht, um rechtliche Fragen und Antworten weiterzuentwickeln. Ohne die Wurzeln der Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Rechtsgeschichte besteht die Gefahr, zum technokratischen Rechtsanwender zu degradieren (Stichwort: „Rechtsingenieur“). Es besteht die Gefahr, dass sich keine gemeinsame Schnittmenge über die Grundlagen und das Wesen des Rechts mehr im gemeinsamen Bewusstsein aller das Recht Anwendenden findet.
Leider sieht die Praxis anders aus! Alle Studenten fokussieren ihren Blick sehr schnell ausschließlich auf die Lösung von Fällen und das positive vorgefundene Recht. Von den durch Professoren und Altstudenten kommunizierten schweren Anforderungen der Semesterklausuren und des Examens geht eine erhebliche Sogwirkung auf ihr Lernverhalten aus. Die überragende Relevanz der Examensnote zwingt die Studenten dazu, Lehrveranstaltungen in Frage zu stellen, deren Inhalte mit dem Examen als nicht kompatibel wahrgenommen werden. Wichtig sind für die Studenten die Grundlagen für die Fallbearbeitungen der ersten Klausuren, nicht die Grundlagenfächer, deren Bezeichnung ohnehin verwirrend wirkt, da sie eben gerade nicht die notwendigen Grundlagen für die Rechtsanwendung legen und die man besser deshalb als Quellenfächer bezeichnen sollte.
Häufig werden Sie dem Begriff der Rechtsdogmatik begegnen. Rechtsdogmatik ist die wissenschaftliche Behandlung und Darstellung des geltenden Rechts. (griech.: dógma, Meinung, Lehrsatz). Sie legt die geltenden Rechtsgrundsätze fest. Das geltende Recht umfasst dabei nicht nur die Gesetze mit Geltungsanspruch, also die Gesetzestexte, sondern auch deren Konkretisierung in der Anwendung durch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft. Das geltende Recht zu kennen und zu verstehen, ist die Aufgabe der Rechtsdogmatik. Kurz: Die Rechtsdogmatik ist die juristische Arbeit am vorgefundenen Gesetz. Die Dogmatik hat zwei wichtige Funktionen:
Sie hat eine Stabilisierungsfunktion für die Rechtsanwendung, da alle Gesetze mit gleichen Methoden und im gleichen Geist anzuwenden sind.
Sie hat eine Entlastungsfunktion, damit man das juristische Rad nicht immer wieder neu erfinden muss.
Die Rechtsdogmatik mit ihrer Falllösungstechnik hat die Monopolstellung für Ihr „Lernziel Staatsexamen“. Rechtswissenschaft ist für Sie überwiegend eine Rechtsanwendungswissenschaft. Bewährt sich nicht vielleicht in der Falllösung die eigentliche Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz?
Mein Rat: Sie sollten am Anfang Ihres Jurastudiums eine mehr geschlossene Orientierung an der juristischen Form der Fallbearbeitung und am dogmatischen Rechtswissen anstreben. Um den Rest der „Grundlagenfächer“ kümmern Sie sich später auf sicherer „Grundlage“ der ersten Semester. Es muss nicht alles zugleich und an (noch) nicht dazu bereiter Stelle studiert werden.