Viele Studenten haben kurz vor der Klausur den Zeitpunkt erreicht, zu dem ihr Gehirn implodiert. Es stürzt in sich zusammen zu einem strukturlosen Haufen konturloser Gesetzesfetzen und Skriptenschnipsel, in dem keine juristische Form mehr haften bleibt. Wenn sie über gelernte Gesetze und Rechtsfiguren nachdenken, erhebt sich ein Wüstensturm und begräbt ihre noch junge juristische Welt unter Unmengen von Sand. Jeder kennt das Gefühl! Man gerät in einen desparaten Stupor – in eine alles lähmende Verzweiflung. Irgendwann ist sie nun einmal da – die erste Klausur.
Klausur ist die sprachliche Verkürzung des Begriffs „Klausurarbeit“ – eine im verschlossenen Zimmer oder unter Aufsicht abzufassende Prüfungsarbeit – und geht zurück auf das lateinische Verb claudere (clausum), was (ab-, ver-)schließen bedeutet. Klausur heißt im Ursprung: Abgeschlossenheit, Einsamkeit, Klosterzelle, Behausung eines Einsiedlers.
Dies spiegelt damit so in etwa den Gemütszustand wider, den man vor und während des Klausurenschreibens manchmal empfindet: Furcht, Alleingelassensein, Isolation, Absonderung, Vereinsamung, Vereinzelung, Unfreiheit, Angst. Man fühlt sich als Desperado, als Verzweifelter – als ein zu jeder Verzweiflungstat Entschlossener! Diese Gefühle entstehen beim Studenten durch Stofffülle, Alleskönner Panikkommilitonen (Furcht steckt an) Zeitdruck Informationslawine der Ausbildungsliteratur Vorlesungsunverständnis Selbstüberforderung curriculare Unübersichtlichkeit Hörsaalüberfüllung Dozentendrohungen.
All das macht kraftlos, mutlos und lähmt. Werden Sie zum Kontraphobiker! Lassen Sie sich von Ihren Ängsten sagen, was von Anfang an zu tun ist, um sie in Schach zu halten: Entlarven Sie die weltmeisterlichen Alleskönner und Panikmacher, setzen Sie sich zur Eingewöhnung in die Klausurenhörsäle, lesen Sie, lernen Sie, üben Sie. Wenn man die beklemmenden Ängste angeht, wächst man an ihnen und wird zum Therapeuten in eigener Sache.
Man kann reden, was man will! Diese angeführten Gefühle sind nicht zu nehmen – allenfalls zu lindern! Deshalb: Machen Sie sich mit dieser Situation schnellstmöglich vertraut, da das Klausurenschreiben ein Vorgang ist, der unausweichlich auf Sie zukommt und den Sie deshalb trainieren müssen. Das Klausurenschreiben ist die Vorbereitung für das tägliche Brot des fertigen Juristen: Sachverhalte zu erfassen, auszulegen, zu schauen, worauf es schwerpunktmäßig ankommt und die enthaltenen und fokussierten Probleme (Streitfragen) anhand von Gesetz (!), erlernten Methoden und im 4-Takt-Gutachtenstil (ohne Rechtsprechung und Literatur) zu entscheiden.
Wir sollten uns allerdings gleich einmal kurz Gedanken darüber machen, warum man eigentlich eine solche Angst vor Klausuren verspürt. Vielleicht hilft auch hier die Erkenntnis: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt.
Drei Gründe für den Stress des Studenten vor Klausuren springen sofort ins Auge:
Zum einen: vor sich selbst als Versager dazustehen
Zum anderen: in den Augen Dritter als ein solcher zu gelten
Und schließlich: Wertvolle Zeit mit erfolglosem Lernen sinnlos geopfert zu haben
Das sind die Ängste, die jemanden davon abhalten, das Beste aus seinen Fähigkeiten und seinem Wissen im Moment der Klausur herauszuholen, Ängste, die aus einer normalerweise ausgeglichenen Persönlichkeit ein bibberndes Panikbündel werden lassen.
Wenn man der Klausurensituation nicht ins Auge blickt, führt dies schnell zu einem Teufelskreis. Versucht man gar, der angenommenen Blamage aus dem Weg zu gehen und stellt sich der Klausur erst gar nicht, so kommt man keinen Schritt weiter. Das Problem verschwindet nicht durch Ignoranz, vielmehr kommt zu der Angst noch das Eingeständnis hinzu, dass man es an Mut und Angriffslust hat fehlen lassen.
Um besser zu verstehen, was mit Ihnen vor und während einer Klausur eigentlich geschieht, sollten wir einen kurzen Blick in die physiologische Zusammensetzung Ihres Gehirns werfen. Schon dieser Ausdruck ist unkorrekt, denn tatsächlich handelt es sich gar nicht um eine Einheit, sondern um drei getrennte „Gehirne“, von denen jedes unabhängig von den anderen in verschiedenen Stadien unserer Phylogenese (Stammesgeschichte) entstanden ist. Das Gehirn ist wohl das komplexeste System des Universums!
Der primitivste und entwicklungsgeschichtlich älteste Teil (Stammhirn) reguliert Ihre Überlebensfunktionen, wie das Ausweichen vor Gefahr oder die Nahrungssuche, Ihre Atmung und Ihren Herzschlag.
Das zweite Gehirn (Kleinhirn) ist der entwicklungsgeschichtlich mittlere Teil und liegt rund um den ältesten Gehirnteil. Es ist das Zentrum Ihrer Emotionen und sexuellen Antriebe, in Klausuren nicht sehr gefordert.
In der gewundenen Oberfläche des menschlichen Gehirns liegt wie eine Badekappe der Neo-Cortex (lat.: d.h. Neurinde), der entwicklungsgeschichtlich jüngste Teil (Großhirn). Mit diesem Gehirn denken, sprechen, überlegen Sie und führen all die menschlichen Funktionen aus, die Sie von anderen Lebewesen auf der Erde unterscheiden.
Damit Sie nun Ihre juristische Klausur erfolgreich bestehen können, muss Ihr Gehirn frei und reibungslos funktionieren. Da Sie sich aber in einer Ausnahmesituation befinden und sich bedroht fühlen, versucht der älteste Teil Ihres Gehirns – das Stammhirn – die Oberhand zu gewinnen, indem er Ihren Körper für das Zusammentreffen mit der Gefahr vorbereitet.
Ihr Gehirn stellt Sie jetzt vor die Alternativen: kämpfen, totstellen oder fliehen! Nur: Ihre Gefahrensituation ist kein Raubtierangriff, sondern eine juristische Klausur – keine körperliche Auseinandersetzung, sondern ein geistiger Kampf. Was unserem Urahn zum Vorteil gereichte, nämlich die totale Konzentration, die Zusammenballung aller körperlichen Funktionen auf die Attacke, gereicht Ihnen jetzt zum Nachteil. Was für unseren Vorfahren, den Urzeitjäger, gut war, ist in Ihrer Klausurensituation schlecht. Der primitive Teil Ihres Gehirns, der nur Gefahr kennt, nicht aber zwischen körperlicher und geistiger Gefahr differenzieren kann, drängt sich im Klausurenraum in den Vordergrund und sendet so starke Signale aus, dass die Großhirnrinde davon überlagert wird und nicht so funktioniert, wie Sie es sich wünschen. Die Natur konnte schließlich nicht ahnen, dass unsere moderne Gesellschaft einmal Stress- und Alarmreaktionen nicht mehr mit Säbelzahntigern, sondern mit dem juristischen Klausurenschreiben verknüpft, mit einem Vorgang, bei dem solche Gegenwirkungen am allerwenigsten zu suchen haben.
„Ich kann nicht mehr klar überlegen“, sagen Sie, „ich bin blockiert – ich denke unzusammenhängendes Zeug – ich bin nicht mehr in der Lage, die einfachsten Schlussfolgerungen zu ziehen.“
Diese Störung in Ihrem Denkprozess darf nicht auftreten, Ihr Primitivgehirn muss unter Kontrolle gebracht werden. Trotzdem möchten Sie seine Signale nicht völlig unterbinden. Sie schreiben eine Klausur und brauchen diesen Adrenalinstoß. Die besondere adrenalinprodu- zierende Anspannung bewirkt nämlich auch die Fähigkeit, Höchstleistungen zu erbringen, denn die Stresshormone mobilisieren die letzten Leistungsreserven und können bisher unbekannte Kräfte entfalten. Ein kleiner Adrenalinschwips muss schon sein!
Die Frage ist nur, wie man die notwendigen und wertvollen Impulse des Hormone feuernden Primitivgehirns in Gang halten kann, sie aber gleichzeitig so kontrolliert, dass sie ein Gleichgewicht zu den für Ihre Situation noch wichtigeren Funktionen Ihres Großhirns bilden, dass also Ihr primitives Stammhirn Ihr denkendes und um juristische Erinnerung und Hingabe ringendes Großhirn nicht blockiert.
Sie müssen den Umgang mit Ihren instinktiven Reaktionen trainieren. Sie müssen lernen, diese Überlebensreaktionen bewusst zu bekämpfen, sie für sich, statt gegen sich arbeiten zu lassen. Sie müssen Ihre Instinkte bis zu einem solchen Grad kontrollieren, der es für Sie möglich macht, Ihr Erregungsniveau so zu beeinflussen, dass Sie in der Lage sind, frei und unbeeinträchtigt in der Klausur zu denken. Sie müssen sich für Ihre erste Klausur fit machen!
Vor einer Klausur zeigen sich mehr oder weniger drei Hauptkategorien von Klausur-Stresssymptomen:
Physische Klausurenstressoren:
Beschleunigter Puls, zitternde Stimme und Hände, Kloß im Hals, Hitzewallungen, Schwächegefühl, nervöser Magen und Darm, Übelkeit, Hyperventilation, tränende Augen, laufende Nase.
Geistige Klausurenstressoren:
Plötzliches Vergessen gerade noch vorhandener Gedanken, ständiges gebetsmühlenhaftes Wiederholen von Gedanken, das den Denkfluss hemmt, ein allgemeiner Zustand der Verwirrung, Denksperre, Denkblockade, ein Delirium der Begriffe.
Emotionale Klausurenstressoren:
Zu den emotionalen Reaktionen fallen mir ein: Beklemmungsgefühl; Eindruck, von der Situation überwältigt zu werden; das Gefühl, die Kontrolle über sich selbst verloren zu haben; Hilflosigkeit; Verlegenheit; Panik; Gefühl der Beschämung und Demütigung; Alleingelassensein.
Psychische Klausurenstressoren:
Hinzu treten nicht selten im ungünstigsten Augenblick der Klausur unter fliegender Hitze Bilanzdepressionen, wenn mit der juristischen Ausbildung verbundene Hoffnungen sich (scheinbar!) als uneinlösbar erweisen und obendrein ein Rechtfertigungsdruck entsteht, dass die juristische Ausbildung trotzdem die richtige Entscheidung war. Zum schlechten Schluss die Überlegung: Warum denn das alles? Lohnt sich das alles? Ich bin eben ein Loser! Weglauftendenzen und eine Reaktion des „Zurück-in-den- Mutterleib-Wollens“ tauchen auf.
Im traditionellen Ansatz werden die Ängste und Stressoren vor einer Klausur als Einzelerscheinungen abgetan, als einfacher Fall von Nervosität, der man mit Willensstärke Herr werden könne. Wenn man nur etwas positiv denke und sich konzentriere, dann solle es gelingen, in der Situation einer Klausur den Pulsschlag, die Denkblockaden und die Beklemmungsgefühle auf ein normales Maß herunterzuzwingen. „Reiß dich doch mal zusammen!“ – „Da muss man durch!“ – „Das haben andere auch geschafft!“ – „Zeig doch einmal Willensstärke!“
Der aufmunternde Zuruf „Kopf hoch!“ hat indes noch keinem so richtig geholfen. Sie werden wahrscheinlich selbst schon die Erfahrung gemacht haben, dass diese Methode nicht so einfach funktioniert. Wie viele Studien zeigen, sind die Angst und die Stressoren eine so starke und geradezu zwangsläufige Reaktionsweise auf die Klausurensituation, dass alleine die Willenskraft als Gegenmittel völlig ungeeignet und wirkungslos ist. Wer die freie Willenskraft hier ins Feld führt, zeigt nur seine Unkenntnis über unsere tiefsten Triebe und Ängste.
Es hilft nichts: Man muss diese Angst und diesen Klausurenstress anerkennen und nicht verniedlichen oder gar verstecken – sich ihrer bewusst werden und im Training gegen sie angehen. Je mehr Sie mit den Dingen, die diese Angstgefühle erregen, vertraut sind, desto weniger stören sie Sie. Wem all diese Klausurenszenen und Klagen darüber durch Gewöhnung geläufig sind, dem machen sie nur noch wenig Eindruck. Sie müssen dieser unausweichlichen Klausurensituation eine systematische und detaillierte Aufmerksamkeit widmen. Man muss die Angst vor der Klausur durch Übung, intensives Auseinandersetzen mit den Stressoren und mit Hilfe optimaler Klausurvorbereitung bekämpfen. Sie müssen zum Souverän der Klausurensituation werden, nicht diese über Sie!
Der Macht der Ängste und Stressoren setzen Sie die Macht Ihres Wissens, Ihre trainierte Klausurentechnik, die Stärke Ihrer Methodik und Systematik, Ihr Selbstwertgefühl gegenüber, was unweigerlich zur Beherrschung der Ängste führt. Juristischer Bauch raus! „Hier komm ich! Ich bin der Souverän meiner BGB- und StGB-Klausur und niemand sonst!“
Ein Student, der keine Ahnung von den grundlegenden Regeln für die Strukturierung eines juristischen Sachverhalts, für eine komprimierte Lösungsskizze, von den Kriterien der Bewertung, von der Genealogie der Note, von erprobten Schemata, von der äußeren Form, dem Stil, von dem Zeitdruck, von der Technik und Taktik einer Klausur hat, kann diese Aufgabe unmöglich bewältigen. Er wird stattdessen von seinen Ängsten überwältigt und scheitert.
Schnell ist die Chance einer guten Klausur verspielt. Eine gute Idee, die nur im Kopf oder auf dem Konzeptpapier geblieben oder die schlecht oder falsch in der Arbeit platziert ist oder die einem erst nach Abgabe einfällt, findet keine Anerkennung. Ein Klausurenproblem darf nie etwas sein, auf das man erst nach Abgabe kommt.
Klausuren gelingen nur, wenn man ein streng geordnetes Verfahren einhält, um
die einschlägigen juristischen Fragen (Probleme)
auf dem richtigen Weg (Methodik),
in der richtigen Zeit (Uhr-im-Kopf),
am richtigen Platz (Systematik),
im richtigen Stil (Gutachten),
erschöpfend zu beantworten (Vollständigkeit).
Dazu einige Tipps. Denn: Es gibt kein Geheimnis des Klausurenschreibens. Es gibt nur Studenten, die sich nicht darum bemühen.
Sie müssen sich zunächst klar machen, dass Sie nicht der einzige sind, der in der misslichen Lage ist. Sie aber wissen um die physiologischen und neurologischen Bedingtheiten! Sie polen die Versagensangst in einen aktiven Spannungszustand um, der Sie beflügelt und nicht paralysiert. Sie durchbrechen den Teufelskreis der „Klausurenteufelei“!
Sie vermeiden das Lampenfieber! Jeder weiß aus eigener Erfahrung, dass Lampenfieber in der Regel mit Vermeidungsstrategien gekoppelt ist. Jemand, der Angst vor der Klausur hat, wird die Arbeit daran bis zur letzten Minute hinauszögern. Je näher der Zeitpunkt rückt, an dem eine Verschiebung nicht mehr möglich ist, desto größer werden die Panik und das Vermeidungsverhalten. Der beste Weg, um Ihr Lampenfieber zu vermeiden, ist, sich jetzt sofort an die Arbeit zu machen und sich in Ihrem selbstaufgestellten Trainings- und Lernprogramm das notwendige Wissen anzueignen.
Lernen Sie vom Sport! Die Fähigkeit, Leistung punktgenau zum richtigen Zeitpunkt abrufen zu können, unterscheidet den mental starken Könner vom mittelmäßigen, aber auch von dem Könner, der aufgrund psychischer Schwächen zum Versager wird. Nirgendwo tritt dieser Unterschied deutlicher und öfter zutage als im Sport. Es gibt viele Trainingsweltmeister, denen die Fähigkeit abgeht, ihre Leistung „auf den Punkt“ zu bringen. Bei gleicher körperlicher Fitness und Begabung, bei gleichen Trainingsmethoden, bei gleichen Wettkampfbedingungen gewinnt immer der mental Stärkere. Diese Typen können sich auf den Punkt konzentrieren, bekommen den „Tunnelblick“ und lassen die Angst des Schützen beim Elfmeter oder des Tennisspielers vor dem Matchball gar nicht erst aufsteigen. Wie machen die das? Dieses Fokussieren geschieht neben Ritualen und Atemtechniken vor allem durch das mehrfache systematische und bildhafte Vorstellen von Zeit- und Bewegungsabläufen. Den Sportlern wird beigebracht, sich den Verlauf eines Elfmeters, einer Bergetappe bei der Tour de France oder eines Matchballs ganz vorzustellen – es geistig (mental!) Punkt für Punkt, Sekunde für Sekunde, Meter um Meter durchzugehen. Tennis- und Golfspielern, Skifahrern, Reitern, Turnern, aber auch Solisten in der Musik – also Einzelkämpfern – ist diese Technik überaus hilfreich. Sie sind auch ein Einzelkämpfer in einer Klausur. Auch Sie müssen die Klausur antizipieren! Spielen Sie den Klausurenablauf in Ihrem mentalen Kino mehrfach durch! Vergegenwärtigen Sie sich die Ausnahmesituation mehrere Tage vorher mehrmals! Sich etwas zu vergegenwärtigen bedeutet, sich in einem Zustand der Entspannung die Klausurenszenarien so detailliert wie möglich vorzustellen. Die Imagination, das bildhaft anschauliche Hineindenken, ist die Wunderwaffe im Sport geworden – nutzen Sie sie für sich und Ihren studentischen Wettkampf! Bei der gezielten Fantasie und dem Konstruieren von formalen Szenarien handelt es sich um eine ideale Technik, sich auf eine Prüfungssituation vorzubereiten. (Gilt übrigens für jede schwierige Situation in Ihrem Leben.) Ein „Hirnkino“ antizipiert Schwierigkeiten und ermöglicht durch das innere Ansehen des Films „Klausur“ konkrete Planungen. Vor allem hilft es dabei, die Emotionen in dieser kritischen Situation der Klausur zu kontrollieren – denn jede detaillierte Imagination eines Ereignisses weckt auch die damit verbundenen Gefühle. Wenn wir diese aber schon mehrmals „in Gedanken“ erlebt haben, können wir sie später in der realen Situation besser steuern, die Klausur überrascht und überwältigt Sie nicht mehr. Suchen Sie den Klausurenraum vorher schon mal auf und setzen Sie sich fünf Minuten auf einen Stuhl! Das hilft!
Rufen Sie sich dann und wann in Erinnerung, wie viel Sie schon erreicht haben und nicht immer das, was Sie noch nicht können. Denken Sie daran, wie viele hinter Ihnen gehen, wenn Sie hinschauen, wie viele Ihnen voran gehen. Denken Sie auch daran, wie viele Sie schon überflügelt haben.
Denken Sie nicht: „Ist eh nicht so wichtig, Spitze zu sein.“ Sie verkennen dabei, dass das Bewusstsein, im Studium besser zu sein als der Durchschnitt, eine der wichtigsten Quellen für Ihre Selbstachtung und Ihr Studentenglück ist.
Ganz wichtig: Profitieren Sie vom richtigen Umgang mit „Altklausuren“! Das Lernen am „Fall“ ist wesentlich erfolgreicher als das „Lehrbuchlernen“. Schließlich hat sich die Simulation bewährt, d.h. Bedingungen und Verhältnisse herzustellen, die denen in der Realität entsprechen. Schreiben Sie Klausuren unter Prüfungsbedingungen! Klausurenschreiben lernt man durch Klausurenschreiben, Klausurenlösen durch Klausurenlösen! Besorgen Sie sich alte Klausuren und bearbeiten Sie diese in der vorgegebenen Zeit, wenn möglich zigfach. Klausuren schreiben heißt, sich eine Konfrontationstechnik für Situationen anzueignen, in denen es darauf ankommt, dem Schrecken zu trotzen. Altklausuren zu schreiben, ist eine Zeitinvestition mit hoher und weitreichender Erfolgsrendite. Klausurentechnik lernt man durch Klausurenpraxis! Bei Ihrem Juraweltwissen gibt es zwei deutlich unterscheidbare Formen des Wissens. Nicht alles Jura-Wissen ist „lehrbar“ und „lernbar“ und kann damit weitergegeben und gelernt werden.
Da ist zum einen das juristische „Sachwissen“: Einer weiß etwas über etwas und drückt das Wissen in Sätzen aus. Soweit kein Problem für uns, das ist lehrbar und lernbar.
Da ist zum anderen das juristische „Erfahrungswissen“: Erfahrungen sind die erinnerten Ergebnisse von Versuch und Irrtum. Und dieses Wissen ist nicht lernbar und nicht dozierbar.– Sie müssen manche Erfahrungen tatsächlich selber machen! Sie können nie vermittelt bekommen, was Liebe oder Gerechtigkeit ist, Sie erfahren es erst, wenn Sie lieben oder unter Ungerechtigkeit leiden. Genau so geht es dem Studenten, der auszieht, das juristische Klausurenschreiben zu lernen. Sie können erst dann eine Klausur richtig handhaben und die Stressoren des Klausurenschreibens bekämpfen, wenn Sie einmal „erfahren“, was ein „Klausur schreiben“ heißt – dann „wissen“ Sie es erst. „Klausuren“ kann man nicht aus dem Lehrbuch lernen, sich nicht anlesen, sie sind die Summe hundertfach gemachter „Erfahrung“.
Nun kann der Student auf verschiedene Weisen mit „Altklausuren“ umgehen:
Die Klausur wird gar nicht gelesen. Folge: Der Student lernt nichts.
Die Klausur wird „überflogen“. Folge: Gedankenhappen werden aufgenommen. Der Student lernt und behält so gut wie nichts. Er gaukelt sich vor, etwas gearbeitet zu haben, hat aber nur Zeit verschwendet.
Die Klausur wird vollständig gelesen. Damit hat es sein Bewenden. Folge: Die Gehirnzellen sind eine Zeit lang in Gang gehalten, immerhin ein formaler Trainingseffekt. Rechtliche Puzzlesteine mögen haften bleiben, allerdings ohne systematische Einordnung. Das Wesentliche ist schnell vergessen, damit nicht mehr abrufbar.
Die Klausur wird vollständig gelesen. Der Student fertigt für seine Ausbildungsunterlagen Notizen, um sein Wissen und Verständnis zu erweitern und zu vertiefen. Folge: Einzelne Problembehandlungen und Lösungsmuster können sich gedanklich festsetzen, weil sie selbst formuliert und schriftlich festgehalten werden. Dadurch sind sie zur Wiederholung auch abrufbar, also wieder hervorholbar.
Der Student liest nur den Sachverhalt und den Aufgabentext. Er fertigt eine schriftliche Lösungsskizze an. Sodann befasst er sich mit dem Lösungsvorschlag und vergleicht dessen Ergebnisse mit seinem. Folge: Der Student simuliert den Ernstfall: die Klausursituation! Er ist gezwungen, den Sachverhalt und die Aufgabenstellung haargenau aufzunehmen. Er vertieft sich selbstdenkend in den Lösungsweg. Er registriert, was er kann und was er nicht kann. Er arbeitet den Fall im gutachtlichen Denken am Gesetz, an seiner Methodik und seinen Rechtskenntnissen ab. Er übt, in angemessener Zeit das Gutachten zu einem überzeugenden Endergebnis zu führen. Sodann: Er ist gespannt auf den angebotenen Lösungsvorschlag! Was er liest, hat er selbst schon durchdacht oder angedacht. Was er übersehen hat, verschafft ihm ein Aha-Erlebnis. Ihm wird vorgeführt, wie man ein Problem und dessen Lösung verdichtet und sprachlich angemessen darstellen kann. Er denkt darüber nach und urteilt, ob seine abweichenden Lösungswege falsch sind oder juristisch auch vertretbar oder überflüssig, was ebenfalls falsch ist. Alles in allem: Er überwindet sich zu Beginn, dann verfliegt ihm die Zeit. Die Beschäftigung mit den Rechtsproblemen gelangt notwendigerweise zu einer Intensität, welche die größtmögliche Wahrscheinlichkeit beinhaltet, dass diese und auch ähnliche Rechtsthemen zukünftig dauerhaft im Langzeitgedächtnis „aufgehoben“ werden können.
Der Student liest den Sachverhalt und den Aufgabentext. Er schreibt vollständig das Lösungsgutachten entsprechend seiner eingeübten Klausurmethode. Er studiert vergleichend den abgedruckten Lösungsvorschlag. Folge: Es treten alle Wirkungen der vorhergenannten Stufe ein sowie zusätzlich: Der Student übt die sprachliche Umsetzung des in der Lösungsskizze stichwortartig Vorgedachten. Mit der Zeit formuliert er genauer, zielgerichteter, niveauvoller. Er trainiert, mit der Reinschrift des Gutachtens seine Fallbearbeitung zeitgerecht fertigzustellen. Aber: Der Zeitaufwand für diesen zusätzlichen Übungsteil ist zu hoch. Er beträgt zwei bis drei Stunden. Diese Zeit kann effektiver für andere Lernaktivitäten eingesetzt werden. Zudem ist die Niederschrift des Gutachtens spannungslos, übertrieben, und abwertend könnte man von „ablenkender“ Beschäftigungstherapie sprechen. Inhaltlich sind die Würfel mit dem Abschluss der Lösungsskizze gefallen. Deshalb möchte ich Ihnen von dieser Stufe abraten und die vorhergehende Stufe favorisieren.
Üben Sie sich in gängigen juristischen Formulierungen und Ausdrücken! Legen Sie sich ein „Formulierungsheft“ an, welchem Sie geläufige juristische Redewendungen anvertrauen, so dass sie Ihnen irgendwann in Fleisch und Blut übergehen.
Noch einmal: Es gibt kein Geheimnis des Klausurenschreibens. Es gibt nur Studenten, die sich nicht darum bemühen.