Zur Illustration zunächst ein paar Beispiele:
1. Jupp erschießt den vermeintlich schlafenden Otto, der in Wirklichkeit bereits tot ist.
2. Jupp, der Otto erschießen will, benutzt ein Gewehr, dessen Reichweite viel zu gering ist; die Kugel schlägt 30 Meter vor Otto in den Boden.
(Ähnlicher Fall: Max, der aus der Garderobe einen Mantel stehlen will, erwischt versehentlich seinen eigenen.)
3. Ehemann Jupp, der Ehebruch für strafbar hält, schläft mit seiner Geliebten Ottilie.
4. Jupp, der betrunken mit seinem Auto im Straßengraben landet, verlässt die Unfallstelle, um einem Alkoholtest zu entgehen. Er glaubt irrig, wartepflichtig zu sein, obwohl kein Dritter am „Unfall“ beteiligt war, da die Polizei „alles aufklären“ müsse. Er denkt: Lieber das Risiko einer Unfallflucht (§ 142 StGB), als die Sicherheit der Verurteilung wegen Trunkenheit (§ 316 StGB).
5. Emma ist Alleinerbin (§ 1922 BGB) ihres Onkels Felix, der allerdings Testamentsvollstreckung angeordnet hat (vgl. § 2211 Abs. 1 BGB). Sie nimmt heimlich ein zum Nachlass gehörendes Briefmarkenalbum weg in der irrigen Meinung, die Nachlassgegenstände seien für sie solange „fremd“, wie sie wegen der Testamentsvollstreckung nicht über das Album verfügen könne.
In den Fällen 1 und 2 könnte jeweils ein versuchter Mord gem. §§ 211, 22, 23 StGB in Betracht kommen (im Klammerfall: versuchter Diebstahl).
Der Tatbestand ist nicht vollendet, der Versuch ist strafbar.
Fraglich ist der Entschluss. Entschluss bedeutet Vorsatz. In beiden Fällen glaubt Jupp allerdings irrig, einen Menschen töten zu können. Vorstellung und Wirklichkeit fallen auseinander; zum einen deshalb, weil das Objekt (Mensch) untauglich ist, zum anderen deshalb, weil das Mittel (Gewehr) untauglich ist. In den Fällen, in denen von vornherein feststeht, dass die auf die Tatbestandsverwirklichung abzielende Ausführungshandlung aus tatsächlichen Gründen objektiv nicht zur Vollendung führen kann, egal ob das Objekt (Fall 1) oder das Mittel (Fall 2) untauglich ist, spricht man von einem „untauglichen Versuch“.
Bei einem untauglichen Versuch handelt es sich um einen Irrtumsfall: subjektiver Tatbestand (Vorstellung: „Ich will töten“) und objektiver Tatbestand (Wirklichkeit: „Ich kann gar nicht töten“) fallen auseinander.
Dabei liegt zwischen Tatbestandsirrtum und untauglichem Versuch ein Spiegelungsverhältnis vor.
Beim Tatbestandsirrtum (§ 16 StGB) liegt das Merkmal objektiv vor, aber nicht subjektiv.
Beim untauglichen Versuch ist es gerade umgekehrt: Das Merkmal liegt objektiv nicht vor, aber subjektiv.
Ein solcher untauglicher Versuch ist nach unserer Rechtsordnung strafbar. Dies ergibt sich zum einen aus dem Strafgrund des Versuchs, weil subjektiv ein verbrecherischer Wille vorliegt, der objektiv durch einen Anfang der Ausführung in Erscheinung tritt, zum anderen eindeutig aus § 23 Abs. 3 StGB (nur bei offensichtlich untauglichem Versuch kann die Strafe gemildert werden; sog. „Unverstandsklausel“).
Der Entschluss, d.h. der Vorsatz, liegt bei Jupp vor, da das, was er will und sich vorstellt, bei Durchführung das vollendete Delikt ergeben hätte.
Jupp ist in den Fällen 1 und 2 wegen (untauglichen) Versuchs eines Mordes strafbar.
In den Fällen 3 und 4 liegen die Dinge etwas anders.
Im Fall 3 liegt zunächst ein Irrtum vor. Ehemann Jupp ist der irrigen Meinung, dass das, was er verwirklichen will, strafbar sei. Man spricht in diesem Fall von einem sog. „Wahndelikt“.
Dabei besteht nun zwischen Verbotsirrtum und Wahndelikt ein Spiegelungsverhältnis.
Beim Verbotsirrtum (§ 17 StGB) liegt das Unrechtsbewusstsein subjektiv nicht vor, obwohl die Tat objektives Unrecht ist.
Beim Wahndelikt ist das Unrechtsbewusstsein subjektiv vorhanden, die Tat ist aber objektiv kein Unrecht. Das Wahndelikt ist straflos.
Die irrige Meinung des Jupp, dass das, was er verwirklichen will, strafbar sei (Ehebruch), ist kein Tatentschluss i.S. des § 22 StGB. Jupp erfindet gewissermaßen im Geiste einen nicht existierenden „Ehebruchstatbestand“.
Im Fall 4 liegt gleichermaßen ein Irrtum vor. Jupp ist der irrigen Meinung, dass er „wartepflichtig“ i.S. des § 142 StGB sei, obwohl ein Feststellungsinteresse eines Unfallbeteiligten (ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal) gar nicht vorhanden ist. Da Jupp jedoch irrig angenommen hat, dass er wartepflichtig sei, weil § 142 StGB auch ein Aufklärungsinteresse der Polizei schütze, könnte man an einen untauglichen Versuch (§ 142 Abs. 2 StGB) denken.
Ein Tatentschluss i.S. des § 22 StGB liegt aber nur dann vor, wenn das, was sich Jupp vorstellt und will, bei Durchführung das vollendete Delikt ergäbe. Die irrige Meinung des Täters, dass das, was er verwirklichen will, strafbar sei, ist kein Tatentschluss i.S. des § 22 StGB, sondern ein Wahndelikt.
Nun hat Jupp nicht, wie im Fall 3, irrig geglaubt, gegen ein Strafgesetz zu verstoßen, das es gar nicht gibt; denn Unfallflucht ist ja sehr wohl strafbar. Er hat vielmehr irrig geglaubt, dass das, was er verwirklichen will, unter ein bestehendes Strafgesetz, nämlich § 142 StGB, falle; er dehnte bei unzutreffender Parallelwertung in der Laiensphäre den strafrechtlichen Normgehalt zu weit aus, hat also die Tragweite der Strafrechtsnorm des § 142 StGB verkannt.
Ein Wahndelikt liegt nicht nur dann vor, wenn der Täter irrig glaubt, gegen ein nicht existierendes Strafgesetz zu verstoßen (so im Fall 3), sondern auch dann, wenn er einen Sachverhalt irrigerweise unter ein bestehendes Strafgesetz (§ 142 StGB) subsumiert.
Man spricht also von einem Wahndelikt, wenn der Täter sein nicht unter ein Strafgesetz fallendes Handeln aufgrund eines Irrtums
über die Existenz eines Strafgesetzes oder
über den Geltungsbereich eines Strafgesetzes
für strafbar hält.
Jupp hat im Fall 4 den Geltungsbereich des § 142 StGB verkannt und ihn auf ein polizeiliches Aufklärungsinteresse ausgedehnt, was die Norm aber gar nicht schützen soll. Damit lag kein Tatentschluss i.S. der §§ 142 Abs. 1, 2, 22, 23 StGB vor. Jupp beging mithin keinen untauglichen Versuch einer Verkehrsunfallflucht, sondern ein strafloses Wahndelikt. Er „erfindet“ im Geiste einen nicht existierenden Verkehrsunfallfluchtparagraphen: „Wer sich vom Unfallort entfernt, obwohl ein Feststellungsinteresse oder ein polizeiliches Aufklärungsinteresse vorliegt …, wird bestraft.“
Auch im Fall 5 liegt ein strafloses Wahndelikt vor.
Emma hat das normative Merkmal „fremd“ über seine Tragweite „im Eigentum eines Dritten“ hinaus auch auf eine mangelnde Verfügungsbefugnis des Eigentümers ausgedehnt, also einen nicht existierenden Diebstahlstatbestand „erfunden“. Emma hatte keinen Tatentschluss.
Das, was sie sich vorstellte und wollte, konnte niemals einen Diebstahlstatbestand erfüllen, also lag ein Wahndelikt vor.
Zur Abgrenzung (siehe Diagramm: „Spiegelungen“ S. 220):
Untauglicher Versuch gegen Wahndelikt
Ein untauglicher Versuch liegt vor, wenn der Täter trotz der Untauglichkeit des Mittels oder der Untauglichkeit des Objekts das Delikt theoretisch vollenden könnte. Ein Wahndelikt liegt vor, wenn der Täter Strafgesetze „erfindet“, die es entweder gar nicht gibt oder deren normative Tatbestandsmerkmale sein Verhalten nicht abdecken, es also auch theoretisch niemals zu einem Delikt kommen könnte.
Tatbestandsirrtum gegen untauglichen Versuch
Ein Tatbestandsirrtum liegt vor, wenn der Täter ein Delikt begeht, das er nicht begehen will. Ein untauglicher Versuch liegt vor, wenn der Täter ein Delikt begehen will, das er nicht begehen kann, aber begehen könnte.
Verbotsirrtum gegen Wahndelikt
Ein Verbotsirrtum liegt vor, wenn der Täter Unrecht begeht, das er nicht begehen will. Ein Wahndelikt liegt vor, wenn der Täter Unrecht begehen will, das er nicht begehen kann und auch nicht begehen könnte.